Meine Ureltern
Die Herzen der Künstlerin Margarete Gebauer mit den versteckten Geschichten erinnern mich an alte Schmuckkästchen, die man am Herz getragen hat – manchmal stand da ein kleines Foto.
Jetzt stehen diese Herzen etwas schwerer da, in der Galerie M.A.SH in Remagen, aus Beton und Stein. Einige tragen schon Geschichten in sich, einige sind noch leer.
Ich will in ein Herz eine kleine Kopie eines Fotos meiner Ureltern legen. Das Foto, ohne Autor und Datum, befindet sich in einem alten Eichenrahmen in unserem Familienhaus in Bela Rechka, Bulgarien. Es zeigt meinen Uropa, den Großvater meiner Mutter, Ivan Goranov, mit seiner zweiten Frau, Mina, meiner Uroma.
Dieses Foto hat mich immer sehr unruhig gemacht. Ich weiß auch warum.
Ich will es jetzt in diesem Herz ruhen lassen.
In den letzten Monaten habe ich mehrere Freundinnen und Verwandte gebeten, das Foto anzuschauen und mir etwas dazu zu schreiben. Ganz spontann: Was siehst du? Was spürst Du? Erinnert Dich das an etwas eigenes? Am 25.März sind auch weitere Freundinnen und Freunde und Unbekannte gekommen und darüber geschrieben. Danach ergab sich eine lebendige Lesung und Diskussion.
Hier mein Text, geschrieben nach dem Abend, und die Texte, die zusammen gelesen wurden, entstanden zwischen November 2021 und März 2022.
Diana Ivanova
Was hat mich bei diesem Foto so unruhig gemacht?
Nach dem Abend in Remagen am 24. März 2022 denke ich noch mal darüber nach. Es tauchen spontan neue Gefühle auf.
Natürlich, ist die Unruhe auch damit verbunden, dass ich mich mit meiner Uroma Mina nicht wirklich verbinden konnte. Mich hat alles bei diesem Foto gestört – diese Schleier im Gesicht, diese unklaren Konturen, das verschwommene. Und überhaupt – das ganze Familienfoto hat mich gestört, das nichts für mich transportieren konnte, außer Unruhe, das aber als etwas ganz Kostbares in diesem eindrucksvollen Eichenrahmen stand, als ein Kunststück für sich, als etwas ganz Besonderes, was die Menschen in diesem Haus aufbewahren wollten. Und mir weitergeben wollten. Jetzt bin ich die Besitzerin dieses Hauses und die Besitzerin dieses Portraits.
Die Unruhe, die ich empfunden habe, hat viel mit meinem eigenen inneren Erleben in meiner eigenen Familie zu tun. Ich bin mit Flüstern aufgewachsen, mit sehr viel Liebe, und sehr viel Unausgesprochenem, nicht klar Ausgesprochenem.
Genau dieses Haus in Bela Rechka aber, und genau die Familie, die da wohnte (mein Großonkel Boris, der Bruder meiner Oma, und seine Frau Maria) hat mir immer unglaublich viel Ruhe gegeben. Ich habe immer Bela Rechka für diese Ruhe, Einfachheit und Gelassenheit geliebt. Ich war da immer willkommen, immer reichlich beschenkt, immer mich wohl gefühlt. Und dann – doch dieses Bild, das genau das umgekehrte zeigt. Und mich mit meiner eigenen Unruhe verbinden möchte.
Ich habe auch weitere Verbindungen zu Mina gefunden.
Mina war die zweite Frau von Ivan.
Es gibt auch die Geschichte, dass mein Großvater Dimcho eine andere Frau in Bela Rechka heiraten wollte, aber im letzten Moment meine Oma Ivana, die Tochter von Mina, geheiratet hat. Sozusagen, war meine Oma auch eine zweite Geliebte, nicht die erste. Nach dem Tod meiner Mutter erzählte uns (mir und meiner Schwester) mein Vater, dass seine große erste Liebe eine andere Frau war, Jahre vor meiner Mutter. Mein Vater war aber arm und wollte zuerst ein Haus bauen, damit die beiden anständig wohnen können. Und die Familie der Frau hat darauf nicht gewartet.
Heute bin ich auch die zweite Frau meines Mannes. Wie Mina. Damit kann ich gut leben.
Früher war ich aber nicht immer in der Lage, Gefühle in meinen Beziehungen zu zeigen, z.B. – Wut und Ärger, wenn ich betrogen wurde, Traurigkeit, wenn ich mich nicht gut fühlte. Was will sie, Mina, nicht sehen, fragte in einer der Geschichten Zwetana, meine Verwandte. Ich kann das jetzt mit mir verbinden – ich wollte meine eigene Traurigkeit nicht wahrnehmen und nicht sehen. Ich kenne diesen Zustand. Diesen verschwommenen Blick. Den Blick von Mina.
Am Abend in Remagen sprach plötzlich Angelika über ihre Wut, die Geschichten zu hören, die immer die Armut und die Abwesenheit betonen. Die Wut von Angelika war so lebendig und schön zu spüren, so authentisch. Das hat mich nochmal mit meiner Unruhe verbunden.
Weil genau das hatte mich immer gestört – die Klarheit des Gesichts des Mannes, dem alles erlaubt war, alle Gefühle. Und Mina, der diese Vielfalt der Gefühle nicht erlaubt war, Gefühle wie Wut und Ärger zu zeigen. Das war das Frauengesetz meiner Familie, mit der ich aufgewachsen bin. Ich habe nie meine Oma oder meine Mutter wütend erlebt. Nie. Ich kann mir es nicht vorstellen, dass sie schreien oder ganz laut werden. Zu mir haben sie auch immer gesagt, sehr liebevoll – das darfst Du nicht, liebes, ist nicht schön, Du bist Frau. Dein Vater darf, aber Du bist eine Frau, bleib einfach ruhig, liebes.
Die verbotene Wut ist kein Thema mehr in meinem Leben. War aber eine lange Zeit.
Und wie Anna in ihrer Geschichte die Frage stellt – wo hast Du Teil Deiner Seele verloren, Oma? , kann ich auch fragen – wie war das für Dich, Oma, so viel Wut nicht auszudrücken? Hast Du dabei, ohne zu wollen, Tel Deiner Seele verloren?
In ihrer Beobachtung stellt Zwetana eine andere ganz spannende Frage – vielleicht haben wir Dich beleidigt? Dieses gemeinsame „Jetzt“ von uns, Betrachtern, und von den Beobachteten auf dem Foto, dieses „Jetzt“, wo alles möglich und weiter verändbar ist, ist für mich eine Besonderheit des gegenwärtigen Moments jeder Erinnerung.
Das sind Überlegungen und Gedanken, die zu mir gekommen sind, nachdem ich das Bild zur öffentlichen Verfügung gestellt habe, zu vielen Freundinnen von mir, zu meinen Verwandten, und auch zu unbekannten Menschen, die sich in der Galerie in Remagen versammelt haben.
Ich wollte das Foto meiner Urgroßeltern in Ruhe lassen. In einem Herz der Künstlerin Margarete Gebauer. Das ist mir auch gelungen. Ich kann jetzt dieses Foto dort tatsächlich ruhen lassen, genauso, wie es ist und ich kann meinen Urgroßeltern sagen: Danke, dass ihr mir die Möglichkeit gibt, weiter auszusprechen, was mir nicht immer möglich war. Danke auch an meinen Großonkel Boris und meiner Großtante Maria, die das Foto in diesem Haus und Rahmen aufbewahrt haben und die mir so viel Ruhe geschenkt haben. Danke an alle, die dieses Haus bis jetzt belebt haben und an meine Schwester, die jetzt ein großes Teil ihrer Zeit dort verbringt.
Danke an allen, die meiner Bitte zum Schreiben gefolgt haben. Es hat mich bewegt, diese unglaubliche Resonanz zu spüren und daduch ganz natürlich mehr von mir ans Licht zu bringen.
Deshalb glaube ich tatsächlich, alles geschieht jetzt. Nichts ist wirklich vergangen.
26.März 2022
Ute Poeppel, Bonn
Zwei Menschen, eine Frau, ein Mann. Die Frau auch männlich erscheinend, aber sie trägt Ohrringe. Creolen. Die Augen der Frau tiefliegend, tiefer Blick, obwohl das Foto verschwommen ist. Sie wirkt wie jemand, der viel und hart arbeitet. Der Mann, ihr Mann, ihr Sohn? Es ist nicht klar in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Er wirkt nicht so abgearbeitet, souverän, wohlgehend, männlich, auch patriarchal. Sie kommen aus einer anderen Zeit – aus der Zeit der Schwarz-Weiß-Fotos. Aus der Zeit meiner Großeltern. Da galten andere Regeln.
Anna Kreyer, Bonn
Ich sehe einen schwarz-weiß-Fernseher, darauf ein Standbild.
Daraus schauen sie, Oma und Opa.
Beide haben einander bis in ein gutes Alter.
Aber gut scheint das Alter nicht zu sein.
Beide haben lange und hart auf den Feldern gearbeitet.
Sie ist fast verschwunden dabei.
Ausgemergelt, außen und innen.
Es könnte meine Oma sein.
Aber nicht mein Opa.
Nicht so stolz, nicht mit dieser fremdländischen Kopfbedeckung.
Aber vielleicht auch mit den Augen in der Ferne.
Dort war die Heimat, das 50-Häuser-Dorf.
Aber er hatte sich losgesagt, anders als die meisten.
Er schaute nach vorn.
Sagt mein Vater.
Ich habe seine Augen leider nie kennen gelernt, die meines Opas.
Ich stelle ihn mir sanft vor, und findig und gesellig.
Der Opa in diesem Fern-Seher hält sich stolz und schaut traurig.
Und hat diesen gestelzten Oberlippenbart, der nicht zu seinen traurigen Augen passt,
in meinen Augen.
Opa schaut in die Ferne, Oma mich direkt an.
Das nun wieder eine Aussage über meine anderen Großeltern,
wie sie treffender nicht sein könnte.
Er, der Fremde, konnte sich seine Seele bewahren.
Sie? Da bin ich mir nicht so sicher.
Bei meinen Großeltern, den anderen, war es umgekehrt:
Er verlor Bereiche seiner Seele (oder versteckte sie?),
sie konnte sich ihre von vorn bis hinten bewahren,
über unglaubliche 98 Jahre.
„Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren“ sein Lieblingslied.
Du hast Dein Herz im Russland-Feldzug verloren, Opa.
Nicht das ganze Herz! einen Teil davon:
das Herz für die feinen Töne.
Das Herz mit unbeschreiblicher Trauer und Verlorenheit
hast Du nicht mitgebracht.
Hast Du uns nicht zugemutet. (Und Dir nicht.)
Es blieb in der Ferne.
Ahne ich.
Oma im Standbild, wo verlorst Du ihn, den Teil Deines Herzens?
Ich sehe Düsternis in Deinen Augen und Stumpfheit um Deinen Mund.
Ich sehe den Schmerz der Armut.
Ich sehe den Stolz der Armut.
Maria Valewa
Sie schauen aus einem altmodischen Zoom-Kasten. Mit einem Stift hat ihnen jemand Augen in die ergrauten Höhlen gezeichnet. Ein Zoom-Studio Effekt? Opacity, Colour, Backround, Greenscreen?
Nein, in diesem Meeting ist alles Grau. Es kommt aus einer Vergangenheit, die jemand herausgeschnitten hat aus etwas Anderem, einem größeren Zusammenhang.
Aus zwei Leben und einer gemeinsamen Geschichte.
Doch dieser Jemand hatte einen Stift zur Hand, mit dem er das Grau, ermattete Schwarztöne und müdes Weiß, das niemals mehr Frische erfahren wird, durch feine, schwarze Linien und etwas kräftigere, weiße konturierte.
Der Kragen der alten Frau links im Bild grenzt sich nun klarer vom Hals ab, schon fast wagt das Grau doch noch ein Weiß zu sein. Das Bildnis sollte nicht nur erhalten bleiben, es sollte veredelt werden; heller hier, tiefer dort. Die Mütze des alten Mannes rechts neben der Frau, sein Schnurrbart, seine Falten, alles glänzt und ruht. Und eine kleine Milchstraße weißer Punkte, die vom rechten unteren Bildrand hinauf ins Bild schweben auf das Jackett des Mannes, der Fleck darunter, … alles ist aus dem Sternenstaub verklärender Erinnerung.
Gekonnt schwingt die Hand nun einen Pinsel und lässt durch ein paar vertikale Striche, nebeneinandergesetzt, das fade Nebelgrau des Hintergrunds fast subtil zum Vorhang werden.
Jedes Mal, so stelle ich mir vor, wenn dieser oder diese Person „Jemand“ jenes Bild betrachtet, so öffnet sich der Vorhang und lässt eine Geschichte abspielen aus dem Leben zweier Menschen, weit weg von uns, lange vor unserer Zeit, als es zwar schon die Photographie, doch Zoom-Meetings noch nicht einmal in den kühnsten Träumen gab.
Ulrike Schlosser, Bonn
Heute denke ich spontan an Mutter Teresa, blitzschnell, ohne Denken, wenn ich ehrlich bin.
Gestern warf ich einen kurzen Blick drauf und „dachte“ ebenso blitzschnell: Warum ist diese Frau so undeutlich, obwohl sie im Vordergrund steht? Warum ist der Mann so klar abgebildet?
Ist das Bild eine Montage? Die beiden Personen kommen mir vor, als ob sie ausgeschnitten und dann zusammengeklebt wurden. Zwei Menschen, die eventuell hart gearbeitet haben in ihrem Leben?
Strenge.
Gab es Freude?
Disziplin.
Weitermachen.
Hinnehmen.
Brigitte Dietrich, Remagen
Zuerst dachte ich, es handele sich bei den Beiden um eine Nonne und einen Priester.
Dann dachte ich, es könnte doch ein Paar sein, das aber nicht miteinander reden würde.
Glücklich oder auch nur zufrieden sehen beide nicht aus.
Das Bild erinnert mich an die Atmosphäre in der (Groß)-Familie meiner Kindheit…
Anika Meckesheimer, Freiburg
Erinnerungsarbeit. Persönlich.
Sind sie beide in einem Raum oder sind die Portraits aufgeklebt?
Sind die Kopfbedeckungen ihre oder aufgeklebt?
Die Frau
Sehr sehr trauriger Mund.
Sehr angespanntes Gesicht
Sehr tief liegende Augen
Angespannter Mund.
In meiner Phantasie viel und oft hingenommenes Leid.
Vielleicht nicht ausgesprochenes, nicht aussprechbares Leid.
Leicht vorgeschobenes Kinn
Farbe in den Wangen.
Hängende Schultern
Was mag sie alles erlebt haben, um so angespannt zu sein?
Der Mann
Versetzt, leicht hinter ihr.
Sein Blick ist eher erkennbar.
Scheint in die Ferne zu schauen, woanders hin.
Wenn so die Lippen aufeinander gedrückt werden, wird oft Trauer runtergeschluckt
Das Kinn leicht vorgeschoben – ich interpretiere etwas trotzend entgegengeschoben.
Die Schultern sind hochgezogen – der Kragen geht fast bis zum Nacken.
Verletzt und dennoch friedlich sieht der Mann für mich aus.
Assoziation: Verlust. Verlust dessen, was ihm lieb war. Woran er glaubte.
Warum fällt es mir leichter, meine Assoziationen zu dem Mann zu schreiben?
Nelly Madzharova, Varshetz, Bulgarien (Cousine)
Wow, das ist das Bild, das ich in meiner Kindheit und Jugend gesehen habe! Ich bin froh, dass ich es wieder sehen kann. Wenn ich in das Zimmer im Obergeschoss ging, konnte ich es immer sehen. Danach hat Oma es in den zweiten Stock ins Buffet gebracht und ich konnte es wieder sehen, wenn ich reinging. Das sind die Eltern vom meinem Opa Boris und von Deiner Oma Vanka, ich weiß nicht, wie die Oma hieß, aber Großvater hieß Ivan. Mein Opa und deine Oma, sie sind Kinder von beiden, und ich weiß, dass sie noch mehr Kinder mitgebracht hatte, die er adoptieren sollte…Oma hat uns nichts erzählt, wenn wir sie nach der Vergangenheit gefragt haben, hat sie immer nur mit ein paar Worten geantwortet.
Das Foto wurde auf Karton geklebt und in einen sehr schönen Rahmen für die damalige Zeit gesteckt. Es ist sehr schön, dieses Foto zu sehen, es hat mich an meine besten Jahre erinnert. Wenn ich Opa Ivan anschaue, ist es, als sähe ich meinen Opa Boris, beide sind sich sehr ähnlich. Es tut mir leid, dass wir nichts von ihnen erzählt bekommen haben.
Zwetana Bogdanova, Bela Rechka/Sofia, Bulgarien
Meine Güte, wie echt sind sie! Seriös, ausgeglichen, beständig, sicher in dem, was sie tun. Sie befolgen die Regeln, weil sie es müssen, und die Moral ist hoch. Es kann nicht anders sein. Und sie sind ziemlich streng mit den Kindern, obwohl sie sie sehr lieben. So stelle ich mir meine Großeltern und Urgroßeltern vor. Und ja, das sind die echten Bulgaren der alten Zeit, auf die wir eigentlich sehr stolz sind…
Aber ich sehe auch etwas anderes… Ihre Augen sind verschwommen…
Warum? Sie will etwas nicht sehen, das ihr nicht gefällt, oder wir haben sie mit irgendetwas, mit unserer Tat beleidigt, wer weiß… Ich weiß es nicht. Vielleicht liegt es am Lebensstill…Hatte sie ein gutes Herz? Wurde sie nicht geliebt? Wir wissen das alles nicht so genau…
Aber Deine Großmutter Vanka war für mich etwas Besonderes, sie schien mir wie eine Bürgerin, kultivierter, intelligenter.
Nadya Dimcheva, Vratza, Bulgarien (Nichte)
Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, wer diese Leute sind… Aber als ich sie sah, fühlte ich mich plötzlich in den alten Teil von Dorf meiner Oma und Opa, Krivodol, zurückversetzt, in die alten Winterräume… Mit einem seltsamen Boden, Feuchtigkeit und dem Duft von Kräutern und selbstgemachter Seife. Es gab ein solches Porträt dort. Der Rahmen hat mir sehr gut gefallen… diser „luxuriöse“ Rahmen.
Ich bin mir auch sicher, dass sich hinter dem schwarzen Kopftuch ein fließender, gut versteckter Zopf befindet, der zwar dünn, aber gut befestigt ist. So hat es Oma Vanka immer gemacht …
Eva Kieselbach, Bonn
Die Frau wie hineinretuschiert, undeutlich, verschwommen, wie gemalt, nicht richtig zu erkennen. Der Mann zwar scharf getroffen, aber innerlich abwesend, der Blick nicht in die Kamera gerichtet, ganz woanders. Wo?
Ein bißchen so, als sei jeder alleine auf dem Foto gewesen, kaum vorstellbar, daß diese beiden nebeneinander standen zu dem Zeitpunkt, als das Bild aufgenommen wurde.
Zwei Bilder, nachträglich zusammenmontiert.
Zwei Einzelbilder. Zwei Leben, zwei Schicksale.
Wie kann man nebeneinander auf einem Foto stehen-ein Foto, das zu der Zeit von einem Fotografen gemacht werden musste- und doch so weit voneinander entfernt sein?
Lag es in der Absicht des Fotografen, eine bestimmte Stimmung zu vermitteln?
Der Mann, als denke er zurück, die Frau in ihrer Unschärfe auf den ersten Blick präsenter; wenn man näher heranzoomt, wirkt sie aber noch trauriger als der Mann.
Beide den gleichen abwesenden, nach innen gekehrten Blick.
Was haben diese Menschen erlebt?
Was ist passiert? Worüber sind die beiden so traurig? Zwei Menschen, jeder von ihnen eingeschlossen in sich selbst.
Was macht sie so traurig? Krieg, Tod, Verlust?
Die Augen der Frau wirken fast, als wären sie aufgemalt auf ihre geschlossenen Lider.
Die Frau wirkt in ihrer Unschärfe wie ein eingefangener Moment, ein Geist, eine Erinnerung des Mannes auf dem Foto.
WAS FÜR EIN LEBEN (nach einem Foto eines alten Ehepaares aus Bulgarien)
Sabine Buresch-Fritzdorf
Schatten auf hohlen Wangen
Und schwarze, dunkle Augenhöhlen
Zeigen ein unsägliches Leid
das schweigen muss im Schmerz.
Ein ungeküsster Frauenmund
Und zusammengeschweißte Lippen
Bewahren die Schrecken des gelebten Lebens
Und finden keine Worte für das Grauen.
WAS FÜR EIN LEBEN
Zu zweit und doch allein
Die Blicke der beiden nach Innen gerichtet
In die endlose Leere der inneren Welt
Der Mann wie versteinert
Im schwarzen Mantel mit verrutschtem Revers
Verdeckt die schwarze Haube
Die erloschene Männlichkeit unter schlohweißem Haar
Die Frau im weißen Totenkleid
Verbraucht die nie erblühende Weiblichkeit
Dahingegangen im Fleisch ihrer Kinder
Verhüllt der schwarte Schleier das schin früh erloschene Begehren.
Das immer Währende sich nicht Bewährende
Geschieht im Glauben an eine nie eintretende Zukunft
An der die Hoffnung der Gegenwart klebt
Die schon vorbei ist, befor die gelebt wurde.
Eva-Maria Kreuter
Ein Foto war eine ernste Angelegenheit. Es sollte Bestand haben und war bedeutsam wie ein Dokument. Wir beide stehen zueinander. Das Leben hat uns geprägt und seinen Stempel in unser Gesicht gedrückt. Wir stehen dazu. Wir halten auch durch bis zum Schluß., wir, Ivan und Mina. Wir sind nicht unzufrieden, wir haben viel erlebt, wie alle Generationen vor uns. Das Auf-und Ab! Wir lachen nicht wegen der Zähne und weil es uns nicht zum Lachen zu Mute ist.
Ingo und Maja zeigen Zähne auf jedem Foto, ein auffälliges Lachen. Heute müßen wir dokumentieren, dass das Leben es gut mit uns meint. Es geht um Erfolg in der persönlichen Daseingeschichte. Wir machen etwas aus uns! Nur wer schön ist oder schön lacht, hat es richtig gemacht. Du lachst und lachst und lachst so lange bis die Zähne, die schönen, ausfallen – und Du auch ohne sie ins Gras beißt.
Rolf Habel, Bad Neuenahr
Wir dürfen nicht locker lassen.
Haben keine Zeit für dieses Bild. Zu viel ist zu tun.
Und doch mit jeden Tag gewinnen wir mehr.
Wann ist dieser Photograf fertig?
Wie wird der nächste Tag ?
Wann haben wir die Zeit uns auszuruhen?
Beate Fuhrmann, Bonn
Diese tiefe Traurigkeit in deinem Blick, mit dem du weit schaust, weit über den Fotografen hinweg, die Augen zusammengekniffen, nichts dürfen sie verraten von dieser Angst und dieser abgrundtiefen Traurigkeit, die an deiner Seele knabbert. Schmerz liegt auf deinem Gesicht, was hast du verloren, was hast du vergessen, wohin hast du dich verirrt? Da ist keine Liebe für die Frau an deiner Seite, oder doch? So schwer die Zeiten, da hat die Liebe keine Chance. Der Hunger liegt auf ihrem Gesicht, der Kummer auf ihrem Herzen. Augen, die nicht sehen, Hände, die arbeiten müssen, keine Zeit zu streicheln. Keine Zeit zum Weinen. Beeil dich mit dem Bild, es ist so unangenehm hier. Stramm stehen wir, nicht bewegen heißt es, nichts dürfen wir verraten, uns anmerken lassen, wer wollte denn dieses Foto? Der Hunger hat das Gesicht schmal gemacht, hat Löcher ins Herz gefressen, hat an den Erinnerungen geknabbert. Weg sind sie, die Erinnerungen an leichtere Zeiten, an hoffnungsvolle Zeiten, an Zukunftsträume, kleine verbotene Blicke, aufregende Ausflüge, viel zu wenig von der Leichtigkeit, viel zu wenig Zeit, Schmetterlinge zu beobachten, Träume in die Luft zu werfen und wieder zu fangen, viel zu viel wurde als Unsinn abgetan, nicht zugelassen oder – vergessen. Ein paar Erinnerungen lassen sich erinnern zwischen all den verlorenen, zwischen dem verlorenen Lächeln, der verlorenen Hoffnung. Arbeit, Trauer, was alles hat an unserem Leben geknabbert! Dein Blick ist in die Zukunft gerichtet, die nur noch kurz sein wird. Wir begraben den Schmerz. Wenn das Foto geschossen ist, endlich im Kasten, versuchen wir ein kleines Lächeln. Ein kleines Lächeln sollte uns gelingen. Oder nicht?
Monika Winkelmann, Bonn
Ein Mann rechts, mit einer Kopfbedeckung, wie ich sie mit Muslimen in Verbindung bringe. Oder ein Festtagshut. Er schaut ernst, sein Alter unbestimmt. Jung sind beide nicht mehr, sie könnten Enkel haben. (Ich schaue auf die Uhr, 15 Minuten sollen wir schreiben.
Die Frau rechts, an seiner Seite, steht etwas im Vordergrund, wie hinterher montiert – fehlte ein gemeinsames Foto? Wie stehen die beiden zueinander? Vor allem sie, Mina, sieht verhärmt aus, obwohl oder weil wir ihre Pupillen nicht sehen.
Wie sah es dort aus, wo sie lebten? Wie ist die Erde Deiner Ahnen beschaffen? Was macht Dich so unruhig? WILLST Du es es wissen? Wir erfahren es erst, wenn wir wissen wollen. Dann erzählen sie…
Hat Dein Urgrossvater Dienst an der Waffe machen müssen? Was für ein Mensch war er? Was haben sie weitergegeben an Deine Mutter oder Deinen Vater? (Du schriebst das sicherlich, ich finde diesen Anhang von Dir gerade nicht, bin unterwegs.) Fühlst Du Dich ihr verbunden. Wodurch? Sie trägt ihr Kopftuch keck, hinter die Ohren geschoben. Vielleicht konnte sie so besser hören. Mit dem Sehen war es schwer gewesen, geworden. Arzt und Brille konnten sie sich nicht leisten. Er schämte sich dafür.
Dein Geburtsdorf? Vielleicht wäre es, das Dorf, stolz auf seine „Tochter“, auf Dich?
Bist Du stolz? Auf Deine Grosseltern? Dein Erbe? Dein Dorf?
Wie schauen sie auf Dein Leben?
Wann hast Du die Hacke mit dem Füller vertauscht?
Würden sie das billigen?
Danke für den Einblick, das Vertrauen.
Haben wir wirklich etwas von Dir erfahren?
Vielleicht bist Du auch verschlossen wie die beiden?
Mögest Du, mögen sie, möge das Dorf
Frieden finden.
Stefanie Nießen
Mensch gesichter, gelebt, geliebt, gezeichnet
weiblich ? männlich ?
was macht es schon
der schleier
über zerfurchtem gesicht
sonnengegerbte haut
was bleibt vom langen leben ?
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