Texte
Hier veöffentlich ich Gespräche mit interessanten Menschen, eigene Essays, Gedichte und Eindrücke.
Hier veöffentlich ich Gespräche mit interessanten Menschen, eigene Essays, Gedichte und Eindrücke.
2005
Der Text ist Teil der Reihe, die den europäischen Journalistenpreis der APA in 2005 in Wien gewonnen hat.
Der Text wurde in der KAPITAL Wochenzeitung in 2005 und im Buch “Which road to Europe” (Wien, 2008) veröffentlicht. Die Texte wurden im Jahr 2005 während des Milena Jesenska Stipendiums im Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM, Wien) recherchiert und vorbereitet.
„Text voller Emotionen“ – APA-Nachrichten
Ehrengast Milan Kucan, ehemaliger slowenischer Staatspräsident, lobte den bei der
Preisverleihung Mittwoch Abend in Wien vorgetragenen Beitrag („Frau Bulgarin“) der Journalistin als „Text voller Emotionen“.
Ivanova habe durch sehr persönliche Erzählungen die Stimmung nach der Wende in Europa eingefangen. Ihre Zeilen würden an niemandem, der zur Zeit der Wende in Osteuropa gelebt hat, emotionslos vorüber gehen, so Kucan. Ivanova habe auch spürbar gemacht, „dass heute noch
immer Reste der Berliner Mauer übrig geblieben sind.“
Die Siegerin überzeugte die siebenköpfige internationale Jury mit einem Zyklus unter dem Titel „Guten Tag Melancholie“. Der im Rahmen der Preisverleihung vom Schauspieler Fritz Friedl vorgetragene Text „Frau Bulgarin“ erzählt von einer in Wien lebenden namenlosen Frau
aus Bulgarien, die symbolisch für die Melancholie des Fremden aus dem Osten steht.
„Die Vergangenheit war noch nie so schön wie heute“
Von einem Plakat in dem Wiener Cafe „Das Möbel“
Die erste Geschichte, die mir in Wien erzählt wird, ist über eine Frau ohne Namen – sie war einfach Frau Bulgarin. Suzanne erzählt mir die Geschichte, während wir zum Mittag im Institut für die Wissenschaften vom Menschen zusammen essen. Ihre Stimme ist voller liebevoller Nostalgie :
„Vor vielen Jahren gab es ein bulgarisches Restaurant am Gürtel Kreisverkehr in der Nähe der Metrostation Gumpendorfstrasse im 15. Bezirk, es hieß Rila. Diese Frau [ Frau Bulgarin ] war der gute Geist des Restaurants. Ich wusste nie ihren Namen. Sie war immer in Eile, nie ganz zufrieden mit den Bestellungen der Kunden und sie stellte die Teller auf die Tische wie mit einem Paukenschlag … Sie trug immer eine Schürze, um sich ihre Hände daran abzuwischen. Der Ort war grimmig und altmodisch, aber wir gingen alle dahin wegen dieser mürrischen Frau – sie servierte das beste Essen auf der Welt zu den niedrigsten Preisen… Aber die Kneipe ist nicht mehr da…”
Der Westen – Wir und sie Wenn ich auf Reisen in den westeuropäischen Länder bin, sehe ich immer, dass die Teilung zwischen uns und „denen“ wirklich existiert. Ich weiß immer, wenn ich in Westeuropa bin – das Gefühl von Nostalgie ist dort nicht verboten. Ich habe meine eigene Theorie, was einen bulgarischen Emigranten erfolgreich macht -das hängt davon ab, wie gut man die Nostalgie für die eigene verbotene Vergangenheit den Menschen im Westen übersetzen kann. Man ist erfolgreich, wenn man diese verbotenen Gefühle zum eigenem Vorteil nutzt. Man ist es nicht, wenn man sie nicht wahrnimmt und deren Opfer wird.
Vor einem Jahr, bei einem Seminar in Österreich, traf ich Kinga, eine Ungarin aus Budapest. Sie sagte mir : „Es ist einfach toll, dass ich Dir nicht alles zu erklären brauche – Kommunismus, Demokratie – es gibt kein Ende, ich verschwende so viel Energie in Erklärungen… Du und ich können einfach reden, ohne diesen Erklärungen, und Du weisst ganz genau, was ich meine … „
Ich bin nicht mehr überrascht, wenn ich Westeuropäer treffe, die nichts über Bulgarien wissen. Es ist mir schon so oft passiert, dass es kein Problem mehr ist. Ich habe auch nicht mehr den Wunsch etwas erklären zu müssen. Ich akzeptiere einfach die Realität, so wie Kinga. Aber was mich in Wien überrascht, ist, dass es viele Menschen gibt, die nichts über die Slowakei wissen und noch nicht einmal in der Hauptstadt Bratislava, 40 Minuten mit der Bahn entfernt, waren. Elizabeth ist in ihren späten Zwanzigern, Web-Designerin in einem Software-Unternehmen in der Mariahilferstraße. Wolfgang ist 37, Architekt, in Bodensee, Deutschland, geboren. Er lebt in Wien seit 12 Jahren. Keiner von beiden war je in Bratislava. Am Institut für die Wissenschaften vom Menschen treffe ich andere Menschen, die in der Slowakei nur einmal in den letzten 15 Jahren gewesen sind. Österreich und die Slowakei sind durch die Donau getrennt, aber sie haben jetzt eine gemeinsame Zukunft – beide sind Mitglieder der Europäischen Union. Was viele Menschen in beiden Ländern noch zu entdecken haben, ist, dass es nicht nur der Fluss ist, der sie trennt – es sind ihre Erinnerungen, ihre unterschiedlichen Vergangenheiten. Könnte es sein, dass diese Erinnerungen auch Punkte der Einigung sein könnten? Diese Frage stellt sich mir, nachdem ich mit zwei weiteren Menschen, die selten oder nie in Osteuropa waren, spreche.
Michail Staudigal und Astrid Svenson wissen wenig über Bulgarien. Anstatt zu versuchen, ihre Wissenslücken zu füllen, gebe ich ihnen die Adresse einer Website, die ich vor kurzem zusammen mit einer Gruppe von Kollegen in Bulgarien ins Net setzte. Die Website, www.spomeniteni.org, ist eine stest wachsende Sammlung von persönlichen Geschichten über Bulgariens kommunistische Zeit, von Menschen mit unterschiedlichem Alter und Hintergrund geschrieben . Michail ist Dozent für Philosophie an der Universität Wien und Post- Doktorand an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Die Wirkung von unserer Website auf ihn übertrifft meine Erwartungen. Nachdem er einige der Geschichten liest, sagt Michail mir, dass er zum ersten Mal das Gefühl hat, etwas über seine Nachbarn, die Slowaken zu verstehen. „Unser Wissen [ca. Slowakei] war sehr allgemein. Wir wissen, dass es [ während der kommunistischen Zeit ] die Intelligenz und das gemeine Volk gab. Früher konnten wir entlang der Donau gehen und was wir in der Slowakei sahen, war ein schlechtes Ödland. Es waren keine normalen Menschen in Sicht, nur Soldaten. Und Fabriken. Dies war unser Bild des Landes. Wir kannten keine Details. Aber es sind immer die Details, die den Unterschied machen. Es war ein Gefühl der Angst, weil diese Soldaten nur 50 Meter über den Fluss von uns entfernt waren.“
Astrid Svenson ist Deutsche, eine Doktorantin der Geschichte an der Universität Cambridge. Die bulgarischen Geschichten auf der Website wecken Erinnerungen aus ihrer Kindheit. Sie wurde 1977 in Köln geboren. Ihre Familie lebte danach in den Niederlanden, Frankreich und Belgien. Osteuropa war für sie „so weit weg wie Asien“. Sie war 12, als die Berliner Mauer fiel ( “ Ich erinnere mich an einen langen Sommerabend in Frankreich. Meine Eltern sprachen mit Freunden beim Abendessen über Gorbatschow, die Perestroika, Glasnost, während ich eine Schüssel mit Schokoladen-Teddybären zerstörte. Mein Vater erklärte mir, dass man sowas nicht vor den Gästen tun sollte.“). In der Schule, erinnert sie sich, existiere der Kommunismus einfach nicht in den Lehrbüchern. Mit Ausnahme des kommunistischen Manifests der Bewegung aus den 30-er Jahren und der Weimarer Republik, eigentlich alles nur heroische Bilder. „Erst später erkannte ich, dass ich durch die Lehrbücher in der Schule und die Diskussionen zu Hause einen großen Widerspruch verinnerlicht hatte: Kommunismus in den 30er Jahren war eine gute Sache, aber der Kommunismus nach 1945 war eine schlechte Sache.“ Es gab auch sehr wenig über die Geschichte Deutschlands in der Nachkriegszeit in Astrids Büchern. „Ich hatte eine tolle Geschichtslehrerin, aber auch sie hatte eine seltsame Erklärung dazu: Die beiden Teile von Deutschland sind nun wieder vereint, so ist es nicht mehr notwendig, ihre Geschichte zu diskutieren.“ Zu der Zeit akzeptierte Astrid diese Aussage, aber als sie zur Universität ging und sich mit Studenten aus Osteuropa traf, merkte sie, wie sehr ihr eigenes Denken von der Rhetorik des Kalten Krieges beeinflusst war. Sie begann, sich mehr und mehr für die jüngere europäische Geschichte zu interessieren und auch für den Platz ihrer eigenen Erinnerungen in dieser Geschichte. Astrid sah sich selbst in einer der bulgarischen Geschichten auf spomeniteni.org – die Geschichte eines bulgarischen Jungen, der nach Westeuropa reiste und entdeckte, wie provinziell und isoliert sein Land war. „Das ist, was ich fühle, wenn ich wieder nach Hause in Köln komme“, Astrid geht weiter. „Ich hatte das Privileg, seit ich Kind war, sehr viel zu reisen. Und ich fühle mich immer genau so, wenn ich wieder nach Hause zu meinen Eltern in einen Mittelklasse – Vorort von Köln zurückkehre. Es gibt keine Aufregung, das Leben ist irgendwie ohne Puls dort. Ich hatte das selbe Gefühl, als ich wieder in meine Universität in Mainz nach zwei Jahren in Frankreich zurückkehrte. Berlin ist der einzige Ort in Deutschland, der anders ist .“ Als wir uns trennen, ist mir Astrid dankbar für die Geschichten „die Du mir gegeben hast„. Sie haben längst vergessene Wörter, Bilder und Gerüche bei ihr ins Leben gerufen. Und sie hat mir ihre Gefühle gezeigt. Ich bin ihr auch dankbar dafür.
Die Alchemie der Nostalgie Es scheint mir, dass Westeuropa eine Falle für Osteuropäer hat. Wenn sie in Osteuropa bleiben, fühlen sie sich wehmütig an ihre kommunistische Vergangenheit erinnert. Wenn sie nach Westeuropa ausreisen, versuchen sie diese Vergangenheit und die eigenen Erinnerungen auszublenden, und das öffnet die Tür zur Melancholie. Es ist schmerzhaft, und es gibt keinen einfachen Weg um ihn herum – ich habe mit vielen Osteuropäern, die genauso fühlen, gesprochen. Der Schlüssel liegt vielleicht in den Worten von Eva Hoffman (Autorin des Romans Lost in Translation ), die nach ihrer Ausreise in die Vereinigten Staaten schrieb: “ In gewisser Weise muss man die eigene Vergangenheit neu schreiben, um sie zu verstehen … Wenn man bestimmte Teilen dieser Vergangenheit ausgeschnitten hat, neigt man dazu, sie entweder durch den Schleier der Nostalgie zu sehen – was eine unwirksame Beziehung mit der Vergangenheit ist, oder durch den Schleier der Entfremdung – was eine unwirksame Beziehung mit der Gegenwart ist … “
Cafe Havelka Ich denke immer, wenn ich in Wien bin, dass, wenn man keine eigene Art von Nostalgie besitzt, man sie erfinden muss. Ich bin überrascht, Schichten von Nostalgie im Cafe Havelka zu entdecken. Alle Wiener sind bereit, das zu zeigen. Der Ort ist kaum beleuchtet, die Stühle quietschen, die Polster sind alt. Aber Havelka ist voll von Menschen. Herr Havelka ist an der Tür und begrüsst seine Gäste. Frau Havelka starb vor ein paar Monaten, so kann man nicht mehr ihre hausgemachte Wurst-und Backwaren bestellen. Die Leute kommen hierher, um miteinander zu sprechen. Es gibt keine Musik in den alten Wiener Cafés und alles, was man hören kann, sind die Gespräche. Havelka bringt zu mir die Geschichte von Frau Bulgarin zurück – der mürrischen Frau mit der Schürze. Das ist die authentischste Geschichte eines bulgarischen Einwanderers, die mir jemals jemand in Wien erzählt hat. Die Fragen kommen immer : Warum haben wir diese Geschichten begraben, warum laufen wir weg vor unserer Vergangenheit? Havelka ist nur Nostalgie, hier kann man alle Nuancen des Wortes genießen. Nostalgie besteht aus nostos – Rückkehr und algia -Schmerz. Es sollten auch verschiedene Arten von Nostalgie existieren. Eine wäre auf nostos, auf Rückkehr konzentriert. Es ist vielleicht die gefährlichste Art , die uns blind für das Heute macht. Die andere Nostalgie, vielleicht die heilende Art, besteht auf algia – auf die Wiederverbindung mit dem Schmerz und auf die Akzeptanz dessen existentieller Unausweichlichkeit. Es war Lukas, der sagte: „Schmerz ist eine Geschichte, die in der ganzen Welt existiert .“
Ivan Milev, Adriana Czernin und Gustav Klimt In Wien treffe ich auch Adriana Czernin, eine erfolgreiche bulgarische Künstlerin, die seit 1990 in der österreichischen Hauptstadt lebt. Adriana bringt mich auf die Idee, dass die „Übersetzung“ von „unserer“ Sprache in „ihre“ Sprache noch nicht geschehen ist. Osten und Westen bleiben weiter getrennt. Ich komme in Kontakt mit Adrianas Arbeiten in dem renommierten Albertina Museum. Ihre grossformatigen Zeichnungen sind Teil der Ausstellung „Sieben Frauen – Zeitgenössische österreichische Kunst“ (Oktober 2004 – April 2005). Ich schaue mir ihre Bilder an und ich glaube erkennen zu können, dass sie, wie ich, auch versucht, sich mit einer schwer fassbaren, nebulösenVergangenheit zu verbinden. Ihre Arbeiten erinnern mich an meine eigenen Ängste: dass ich keine gemeinsamen Erinnerungen mit den Leuten aus dem Balkan habe, dass meine Erinnerungen an den Kommunismus ganz anders als diese der Tschechen und Slowaken sind, dass meine eigene Sehnsucht nach der Vergangenheit nichts Gemeinsames mit den Gefühlen sogar anderer Bulgaren hat. Ich fürchte, ich bin absolut allein mit meinen eigenen Erinnerungen, und dass ich in der Lage sein werde, sie zu verstehen, nur wenn ich aufmerksam durch jede einzelne selbst reise. Nur dann, denke ich mir, werde ich in der Lage sein, mich mit anderen Menschen wirklich zu verbinden.
Ich genieße sehr das Gespräch mit Adriana Czernin, nach der Ausstellung. Sie wurde 1969 geboren, nur ein Jahr jünger als ich, und ich finde, uns verbindet eine Menge. Sie erzählt mir auch eine Geschichte, die mich in Verwirrung bringt. Hier ist sie: Viele Kunstkritiker vergleichen ihre Arbeit mit dem Jugendstil und persönlich mit Gustav Klimt . Ich frage sie, ob sie das bewusst gemacht hätte. „Nicht wirklich. Aber es ist eine interessante Geschichte. Einen grossen Einfluss auf meinen Stil hat der bulgarische Maler Ivan Milev. Er ist hier völlig unbekannt, aber in Bulgarien hatte er seine eigene, sehr persönliche Version des Jugendstils entwickelt, 10-15 Jahre ,nachdem der Stil in Wien eingeführt wurde. Ich bewundere wirklich seine Arbeit. Früher hatte ich ein Buch mit Reproduktionen seiner Gemälde, die ich da mit großer Aufmerksamkeit studiert hatte. Ich wurde von den dekorativen Elementen, dem Zusammenspiel zwischen Vorder- und Hintergrund fasziniert. Man ist davon so verwirrt, dass es unmöglich ist zu sagen, was was ist. Jahre später, als ich Klimts Werke in Wien sah, dachte ich, dass Ivan Milev mehr Kraft, mehr tragische Energie als Klimt hatte und dass Klimts Gemälde irgendwie mehr dekorativ sind. Also, wenn es eine Verbindung meiner Werke zu Klimt gibt, dann durch Ivan Milev…. Seltsamerweise, wenn ich in diesen Stil in Wien zu malen begann, dachte niemand daran, mich mit Klimt zu vergleichen. Aber jemand hat diesen Kommentar in den Vereinigten Staaten gemacht, nachdem ich an einer Ausstellung zeitgenössischer österreichischer Künstler in MOCA, Massachsetts teilnahm. Und österreichische Medien wiederholten das… „ Ich frage sie, ob sie jemandem – den Journalisten, denKriitikern – in Österreich etwas über Ivan Milev erzählt habe . “ Nicht wirklich. “ „Niemand ist daran interessiert ? “ „Ich weiß nicht … “ , antwortet sie.
Das ist es, was mich verwirrt – Ivan Milev wurde von Gustav Klimt ersetzt und niemand wurde betroffen, absolut keiner… Warum eigentlich?
Sofia, Depo des Museums für sozialisticshe Kunst
2008
Alles begann mit meiner Cousine aus Vurshets. Ich erinnere mich an ihre Begeisterung vor drei Jahren, als sie sich vorbereitete, nach Italien arbeiten zu gehen. Und ich erinnere mich, was sie sagte , als sie nach Hause kam, ein Jahr später : „Ich würde nie wieder gehen.“ Sie hatte zwei verschiedene Jobs nacheinander gehabt: die Pflege eines alten Mannes und später einer Frau, im Süden von Italien. Sie hatte Gewicht verloren. Sie hatte eine traumatische Erfahrung: ihr Vater starb und sie konnte nicht für die Beerdigung zurückkehren .
Vurshets ist eine kleine Kurstadt mit siebentausend Einwohnern im Nordwesten von Bulgarien, 85 km von Sofia entfernt. Trotz der vor kurzem restaurierten Heilbäder, Bau Anfang des 20.Jahrhunderts, hat die Stadt eine hohe Arbeitslosenquote.
Von meinen häufigen Besuchen in die Region weiß ich, dass Vurshets zwei parallele Leben lebt . Die Männer und Kinder bleiben zu Hause, während die Frauen nach Italien reisen, um dort zu arbeiten. Fast jede Frau in der Stadt war entweder bereits in Italien tätig oder macht Pläne, dies zu tun. Einige waren seit Jahren nicht zu Hause. Sie alle arbeiten als badante – der neue Beruf für Frauen aus dem Osten, was ich lernen werde – privat gemietete Pflegekräfte, die sich um die älteren Menschen kümmern.
Wenn ich in Vurshets über die Frauen, die in Italien arbeiten, spreche, höre ich manchmal Neid in den Stimmen der Leute. Mir wurde gesagt, dass einige der Frauen aus Italien „mit Gold überzogen“ zurückkehren und das gerne auf der Hauptstraße zeigen. Es scheint, jeder ist von diesem Job angezogen –„Du bekommst 500 (Euro) plus für einen Monat, du isst und schläfst im Haus bei der Person, um die du dich kümmerst, und bist in der Lage zu sparen. Dein Geld brauchst Du nicht auszugeben.“ Badante ist derzeit der Top- job in Vurshets und das Geheimnis hinter den umfangreichen Renovierungen vieler Häuser im Sommer .
Ein paar Fragen bleiben für mich offen. Warum sind es die Frauen, die nach Ausland zu arbeiten gehen, während die Männer zu Hause bleiben, was hat das alte patriarchalische Modell umgekehrt ? Gibt es wirklich so viele alte Menschen in Italien? Wie finden diese Frauen einen Job ohne die Sprache zu kennen? Wie gehen sie mit dem psychologischen Druck dieses Jobs um? Was passiert mit ihren Familien in der Heimat?
Ich packe schnell und ich bin bereit nach Italien zu fahren. Ich habe zwei Adressen bekommen. Meine Cousine hat eine Freundin, die für eine alte Frau in der Nähe von Ponsacco, Toskana arbeitet. Das Haus der Frau ist groß, und sie hat sich bereit erklärt, mich für eine Nacht zu beherbergen. Ich werde mich auch mit Svetla treffen, eine andere Bulgarin, die in Ponsacco Zimmer für 10 Euro pro Nacht vermietet. Ich fahre mit einem Kleinbus. Es ist der Fahrer, ich und noch sechs Frauen, alle in den Fünfzigern und Sechzigern, die wieder zu ihren Jobs in Italien zurückkehren. Der Platz vor dem Hauptbahnhof Sofia ist voll mit Bussen, Autos und Kleinbussen, alle von ihnen tragen „Italien“ Zeichen.
Die Geschichten, die ich auf der Reise höre, sind vielfältig. Es war einmal illegal. Vom Grenzübergang bis zum tatsächlich einen Job zu bekommen. Es gibt mehrere Bulgaren in Rom, die Zimmer vermieten und als Zwischenhändler dienen, dafür bezahlt man rund 500 Euro. Nun, dass Bulgarien in der EU ist, erwerben mehr und mehr Frauen Rechtsstatus und sind in der Lage, soziale Sicherheit und Vorteile wie einen 13. Monatslohn und bezahlten Urlaub zu bekommen. Sie sind auch frei, wenn sie mögen, sich selbst Jobs zu suchen, ohne Zwischenhändler. Die EUMitgliedschaft Bulgariens hat ihnen mehr Unabhängigkeit gegeben. Jeder ist zufrieden mit der EU ( ich habe noch nie eine so EU- optimistische Gruppe getroffen).
Eine Stunde nach Mitternacht erreichen wir Ponsacco, eine kleine verschlafene Stadt von der Größe Vurshets, nicht weit von Pisa. Keine der Frauen, die ich im Bus treffe, denkt, ihre Arbeit als badante wäre eine harte Arbeit. „Es ist schwer für sie (die Italiener), nicht für uns. Sie wissen nicht, was harte Arbeit ist. Ich möchte sehen, wie sie arbeiten, auf einem Zwei- decare Feld von Mais, so wie ich früher.“ Für viele, die Pflege eines kranken älteren Menschen war Teil ihrer Aufgaben zu Hause. Der einzige Unterschied jetzt ist, dass sie dafür bezahlt werden. Niemand nimmt diese Arbeit als schwer an, vor allem nachdem sie sehr schwierige körperliche Arbeit in Zypern oder Griechenland oder schlecht bezahlte Jobs in Bulgarien gearbeitet haben.
Doch die meisten Frauen, mit denen ich spreche, sind kategorisch dass, sobald sie die Sprache lernen und ihre Papiere in Ordnung haben, einen anderen Job suchen werden – in einer Bar, Putzen oder etwas anderes. Was sie nie gedacht haben, bevor sie hierher gekommen sind, ist, dass diese Art von Arbeit psychologische Spannungen baut, die angesprochen werden müssen.
Das andere, was noch eine größere Überraschung war, war die Einsamkeit – die Einsamkeit eines Menschen, der in einem Raum für 24 Stunden am Tag beschränkt ist. Es ist eine neue, ungewöhnliche Erfahrung für alle von ihnen. In ihrem früheren Leben waren sie immer in der Gesellschaft von Männern, Kinder, Familie, Freunde und Kollegen.
Einige der Frauen haben ihre Männer zurück in Bulgarien geschieden, andere führen zwei parallele Leben. Sie schicken Geld nach Hause, um ihre Familien zu unterstützen und sie verbringen im Sommer kurze Zeit mit ihren Ehemännern und Kindern. Danach kehren sie in ihr neues Leben zurück.
Keine dieser Frauen denkt, dass es seltsam sei, hier, im Ausland zu sein und zu arbeiten, ohne Männer und ohne Kinder. Sie erklären es mit wirtschaftlichen Gründen. „Es ist sehr schwer für die Männer, hier Arbeit zu finden. Niemand wird einen Mann als Pflegekraft nehmen, und ohne Sprache und permesso ( Arbeitserlaubnis ), sind andere Jobs unmöglich zu finden.“
Alle Frauen unterstützen ihre Familien zu Hause, auch diese, die neue Beziehungen in Italien begonnen haben. Von den zehn Frauen, mit denen ich spreche, gibt es kaum eine, die keine Veränderung in ihrem Familienleben erlebt hat .
Eines Tages wache ich wegen der Glocke der Kirche in Ponsacco auf. Eine Beerdigung. Später mache ich einen Spaziergang rund um die Piazza, wo die alten Männer von Ponsacco ihre Tage verbringen, sitzend und plaudernd. Ich weiß nicht, ob es mir da bewusst war, aber später kommt der Gedanke, wie viel Leid und Tod in der Arbeit der bulgarischen Frauen als badante da ist. Fast alle von denen haben schon einen Tod erlebt. Eine 26- jährige Frau hat es schon zweimal erlebt – Menschen starben in ihre Hände. Sich um alte fremde Leute in ihre letzten Jahre zu kümmern, von sterbenden Menschen umgeben zu sein – das kann nicht einfach sein, finde ich mich selbt nachdenkend. Zur gleichen Zeit versuche ich mich das aus der Sicht der alten Italiener vorzustellen: es kann auch nicht einfacher sein, in Deine Welt, in Deine letzten Jahren des Lebens, vor dem Tod, einen fremden, einen Ausländer so nah zu haben. Es ist ein Austausch des Leidens, so tief mit einer Intimität durchflutet, etwas, womit ich nicht vertraut bin. Etwas viel tiefer und wichtiger passiert hier, was noch nicht in Worten beschrieben werden kann. Ein echter interkultureller Dialog – das Thema, worüber so viel in ganz Europa geredet wird- ist im Gange, in diesen einsamen Momenten, geteilt zwischen zwei Personen aus zwei verschiedenen Welten. Es ist ein ruhiger, sanfter, unvorstellbarer Prozess: eine dieser beiden Welten, die wohlhabende, lagert ihre Leiden aus; die andere Welt, diese, woher ich komme, akzeptiert dieses Leiden zu bedienen, mit Leichtigkeit und einer gewissen Portion Naivität.
Ich versuche, Daten über die Zahl der bulgarischen Frauen in Italien zu erhalten, aber ohne Glück. Diejenigen, die legal sind, sind immer noch sehr stark in der Minderheit , viel hängt von der Initiative der einzelnen italienischen Arbeitgeber. Was ich weiß ist, dass die meisten Frauen aus dem Nordwesten Bulgariens in Toskana landen.
Ich wundere mich über die Folgen dieser Art der Auswanderung auf Bulgarien. Es scheint mir, dass es mindestens zwei Szenarien gibt. Eine positive wäre, dass durch die Erfahrung dieser Frauen wir bewusster werden können auf den Schmerz und das Leiden, die viele Bulgaren zu Hause erleben. Ein neues Verständnis von der psychischen Gesundheit könnte entstehen, ein neues Verständnis von dem, was eine angemessene Versorgung bedeutet. Aber jemand – hier in Bulgarien – sollte dazu beitragen, damit diese Frauen über ihre Erfahrungen und ihre Gefühle sprechen, wenn sie zurückkehren. Sonst würde das negative Szenario passieren -die Auswanderung wird weiter gehen, möglicherweise durch neue psychologische Probleme und Krankheiten begleitet .
Am Ende, denke ich auch etwas anderes -was mit diesen Frauen passiert, ist das Beste, was passieren kann. Jede von ihnen setzt ihrer eigene Version von Virginia Woolf’s Begriff der Kreativität um- ein regelmäßiges Einkommen und ein Zimmer für sich selbst.
Der Text hat einen der fünf Hostwriter Collaboration Prize 2014 gewonnen und wurde in n-ost veröffentlich. Das ist eine gemeinsame Reportage mit Dagmar Gester.
Der junge DDR-Bürger Christian Staudinger versuchte 1971, über Bulgarien in den Westen zu flüchten. Er wurde gefasst, gefoltert und zurück in die DDR gebracht. Wie ihm erging es vielen, die diesen Fluchtweg wählten. In Bulgarien aber gibt es auch 25 Jahre nach der Wende keine öffentliche Auseinandersetzung über die Verbrechen an der Grenze.
(n-ost) – „Da kommt ein Dämon, ohne Farbe, in Uniform, er ist lang, unendlich lang und will mich umbringen, mit so einem lachenden Zynismus und verachtendem Hass“, erzählt Christian Staudinger einen seiner Träume. Der Dämon der Erinnerung an seine gescheiterte Flucht lässt ihn auch nach 43 Jahren nicht los.
1971 versuchte der damalige DDR-Bürger, über Bulgarien in den Westen zu fliehen. Als Kind war Staudinger mehrmals mit seinen Eltern an der bulgarischen Schwarzmeerküste im Urlaub gewesen. Weil er wie viele seiner Mitbürger dachte, dass die bulgarische Grenze nicht so streng überwacht werde, jedenfalls nicht so streng wie die innerdeutsche Grenze, kam er zu der Entscheidung, über Bulgarien und die Türkei in den Westen zu fliehen.
In der Nähe von Achtopol, wo der kleine Fluss Weleka ins Schwarze Meer mündet, scheiterte jedoch seine Flucht. Am 24. September 1971 wurde der damals 19-Jährige gefasst. Er erlebte eine Scheinhinrichtung, litt Hunger und wurde von den deutschen Verbindungsoffizieren der Stasi beschimpft und gedemütigt.
Zurück in der DDR wurde Staudinger wegen „versuchter Republikflucht“ und „staatsfeindlicher Hetze“ zu einem Jahr und sieben Monaten Gefängnis verurteilt. Am 13. November 1972 wurde er direkt aus dem Gefängnis in die Bundesrepublik Deutschland entlassen und aus der DDR ausgebürgert.
Die traumatischen Erlebnisse von Haft und Folter haben Staudingers Leben geprägt. „Ich dachte, ich überlebe das nicht“, erinnert sich der 62-Jährige, der heute als Künstler arbeitet und in Berlin lebt. „Physisch hatte ich nie mehr so ein Erlebnis.“ In der Haft in der DDR, die er in der Untersuchungshaftanstalt der Stasi in Erfurt verbüßte, „war es psychisch schwierig, so eine Stille, nichts, kein Geräusch, aber in Bulgarien war das körperlich schlimm“.
Von seiner 4-wöchigen Haft in 1971 in Bulgarien erzählt Staudinger so detailliert, dass der Schmerz förmlich zu spüren ist: „Ohne Fenster, ohne Licht, eine Stahltür. Es gab kein Klo, deshalb hat es fürchterlich gestunken. Lehmfußboden mit Stroh, mehr war da nicht drin.“ Er habe geweint und geschrien, nach jemandem von der DDR-Botschaft gerufen. „Einmal am Tag kam einer, wenn ich so schrie, und hat mir ins Geschlecht getreten.“ Essen habe es nicht gegeben, nur einmal am Tag etwas Wasser mit Tomatenschalen. „Ich hatte Schmerzen vor Hunger. Wenn der Schmerz nachließ, kamen sie und haben mir ein kleines Stück Halva gegeben, habe ich gierig gefressen. Aber dann war er wieder da, der Hungerschmerz.“
Staudinger versuchte vieles, um zu vergessen und sich vom Hass zu befreien: Fallschirmspringen, Sozialarbeit im Frauenknast, Psychoanalyse, Yoga. Doch erst die Kunst hat ihm geholfen. 2004 unternahm er eine Erinnerungsreise mit seiner Frau nach Bulgarien und entwickelte ein künstlerisches Konzept für ein Mahnmal für die deutschen Opfer in Bulgarien. Das Mahmal sollte vor dem Gefängnis in Burgas stehen. Zwei Stahlkasten aufeinander. Der eine hat die Grösse der Zelle, wo er 3 Wochen verbrach – 100x200x160. Im zweiten sind Rosen gepflanzt. Das Konzept wurde zum Kulturministerium geschickt, es gab keine weitere Entwicklung. In Gesprächen, so erzählt er, sei ihm allerdings immer wieder gesagt worden, Bulgarien sei noch nicht so weit in seiner Verarbeitung der eigenen Geschichte, das Thema werde auf kein öffentliches Interesse stoßen.
Das „Thema“, die Verbrechen an der bulgarischen Grenze, ist bis heute in der Aufmerksamkeit des Landes marginalisiert. Einzig ein Spielfilm, „Graniza“ (Grenze) Ilian Simeonow aus dem Jahr 1994, bricht dieses Tabu. Der Film zeigt, wie junge Soldaten gezwungen werden, im Grenzgebiet „Verbrecher“ zu schießen und zu erschiessen, um ein paar Tage Ferien zu bekommen und den enormen psychischen Druck zumindest für kurze Zeit zu entfliehen.
Die bulgarische Regierung widmete sich genau einmal dem Thema: Im Februar 1992 berichtete der damalige Verteidigungsminister Dimitar Ludschew, dass mindestens 339 bulgarische Staatsbürger und 36 Ausländer – vor allem Urlauber aus der DDR – von Angehörigen der Grenztruppen getötet worden seien.
Der Berliner Politikwissenschaftler Stefan Appelius ist der erste, der die Schicksale deutscher Flüchtlingen in Bulgarien erforscht hat. Er schätzt, dass es über Bulgarien zwischen August 1961 und November 1989 mindestens 3.000 bis 4.000 Fluchtversuche von DDR-Bürgern gab. Mehr als drei Drittel waren junge Männer, Anfang 20, so wie Christian Staudinger damals. Zwischen der bulgarischen und der deutschen Staatsicherheit bestand Appelius zufolge eine enge Zusammenarbeit, die insbesondere aufgrund der schnellen Entwicklung des Massentourismus am Schwarzen Meer in den 1960er Jahren ausgebaut wurde.
Die Grenzen zu den Nachbarstaaten Türkei, Griechenland und Jugoslawien machte Bulgarien von 1944 bis 1989 dicht. Was an dieser „bulgarischen Mauer“geschah, dazu forscht auch der bulgarische Historiker Momtschil Metodiew, seit 2006 das bulgarische Stasi-Archiv geöffnet wurde. Die Akten beinhalten keine genauen Opferzahlen, doch dokumentieren sie, wie das System funktionierte. In der Grenzzone, die jeweils 15 Kilometer weit ins Land hinein ragte, durften zwar Menschen wohnen, doch durfte niemand unangemeldet hinein.
„In allen Grenzgebieten gab es sogenannte vertraute Personen, die keine offiziellen Spione waren, aber stets bereit waren, zu melden, wenn ein Unbekannter in der Umgebung erschien“, schildert Metodiew. Es sei einfach gewesen, über Propaganda die Menschen gegen den „Feind“ zu mobilisieren, zumal angesichts der patriarchalen familiären Strukturen besonders in den Grenzdörfnern. In der bulgarischen Mangelwirtschaft habe das System Zuträger kleinen Geschenken wie Anzugstoff oder Armbanduhren oder mit Jobversprechen überzeugen können. „So waren fast alle daran beteiligt, ‚Feinde‘ oder unbekannte Leute sofort zu melden.“
Vielleicht erklärt auch das, weshalb in Bulgarien bis heute schwer fällt, die Verbrechen an der Grenze vor 1989 als Verbrechen zu bezeichnen. Lubomir Wasilew aus Sinemorets südlich von Achtopol war in jener Zeit Leiter der Grenzabteilung am Schwarzen Meer war, als Christian Staudinger seinen Fluchtversuch unternahm. Er ist bis heute überzeugt, alles richtig gemacht zu haben: „Unsere Grenze war vorbildlich, perfekt.“ Seine Soldaten hätten nicht geschossen, behauptet er. „Aber wir haben unsere Grenze verteidigt und das gemacht, was nötig war.“
Wasilew erinnert sich nicht an Staudinger, aber an andere Deutsche, alle sehr jung, die danach zurück in die DDR gebracht wurden. Die Vorstellung von einem Denkmal für die Opfer erscheint ihm abwegig, denn, so sagt er, die meisten Leute, die über die Grenze fliehen wollten, seien Kriminelle gewesen. Und, so fügt mit einem Achselzucken hinzu, „so waren die Zeiten damals“.
Anders als in Deutschland wurde in Bulgarien kein für die Todesschüsse verantwortliches Regierungsmitglied vor Gericht gestellt. Auch gibt es kein Museum, das diesen Teil der bulgarischen Geschichte erzählt, obgleich viele Menschen solche Geschichten aus ihrer Familie kennen. Auch ein Mahnmal gibt es bis heute nicht.
Doch Staudinger hofft, dass es dazu doch kommt. Bei seiner letzten Reise konnte er mit einigen Bulgarinnen sehr fief darüber sprechen. Und wenn Leute sprechen, bedeutet das kein Vergessen.
Veröffentlicht in „1984! Block an block. Subkulturen im Orwell-Jahr“
BG 1984. “Schaue niemals Bilder zur Beruhigung vor dem Tod an“…
1984 ist ein seltsames Jahr für Bulgarien. Das Tragische ist hinter jeder Ecke. Zum ersten Mal besteigt ein Bulgare den Mount Everest, Hristo Prodanov. Die große Freude bleibt im Gedächtnis aber mit Trauer verbunden – Prodanov stirbt 2 Tage danach beim Abstieg.
So kann man in diesem Jahr alles in Bulgarien betrachten. Es ist ein Jahr tragischer Ereignisse, Gerüchte, Schattengeschichten. Das Land befindet sich in einem konservativen Zustand. Die experimentelle Stimmung, welche die Tochter von Parteichef Zhivkov, Lyudmila Zhivkova, als Kulturministerin gebracht hat, scheint verschwunden. 1981 wird Zhivkova tot im Badezimmer gefunden, ihr Tod bleibt bis heute mysteriös und provoziert viele Gerüchte – Selbstmord oder Mord durch den KGB? Zhivkova sympathisierte mit der indischen Kultur, Philosophie und mit Yoga und zu ihrer Zeit wurde die erste offizielle Yoga-Abteilung im Sportverband in Sofia eröffnet (bis dahin blieb Yoga als „Fremdes“ der kommnistischen Idee verboten). Zhivkova stirbt genau in dem Jahr, als Bulgarien 1300 Jahre seit der Staatsgründung feiert. Filme, neue grandiose Denkmale, der Volkspalast der Kultur in Sofia (… der größte im Südosten Europas…), sollen den Stolz der Bulgaren auf ihre Geschichte wecken. Mit Hilfe Zhivkovas wird im Auswärtigen Amt eine spezielle Abteilung für das kulturhistorische Erbe gegründet, die für den Export und den Verkauf bulgarischer Kunst in die Welt verantwortlich sein soll. Zhivkovas Tod bringt ein bitteres Ende dieser Experimente. Mehrere Angehörige der Abteilung – alle Mitarbeiter der bulgarischen Stasi(DS) – , werden verhaftet, in nichtöffentlichen Prozessen verurteilt und ins Gefängnis gebracht, wegen Diebstahl und illegalem Handel mit Kulturerbe. Das Volk erfährt davon wenig, nur Gerüchte, Vermutungen und Witze. Den neuen konservativen Wind spürt man überall in die Kultur. Der Roman Gesicht (Лице) von der Schriftstellerin Blaga Dimitrova wird 1981 veöffentlicht und sofort aus den Buchhandlungen genommen. Der Spielfilm Eine Frau, die 33 ist (Една жена на 33) wird verboten. Beide Geschichten stellen existenzielle Fragen über die menschliche Einsamkeit und die Suche nach dem Sinn des Lebens, was gefährlich zu sein scheint.
In dieser Atmosphäre beginnt das Jahr 1984. Die indische Ministerpräsidentin Indira Gandhi wird umgebracht. Der sowjetische kommunistische Parteivorsitzende Yuri Andropov stirbt. Der Konsum von Alkohol in der Sowjetunion wird stark begrenzt, was für Bulgarien große Folgen hat – der Export in die UdSSR sinkt von 300 Millionen Flaschen Wein bis auf 100 Millionen, viele Weinberge werden dadurch vernichtet.
Es gibt aber auch wieder Hoffnung und große Aufregung in dieser Zeit.
Einer der besten Kinderfilme wird produziert, ein Film, der für Generationen von Kindern symbolisch bleibt- “Oben auf dem Kirschenbaum”(Горе на черешата). Und ein weiterer Film erscheint 1984 – “Gefährlicher Charme” (Опасен чар), eine der beliebtesten bulgarischen Komödien aller Zeiten, mit dem Schauspieler Todor Kolev.
Genau in dieser Zeit sorgt Punk für große Momente. Die Punkmusik breitet sich in viele Teile Bulgariens aus, es wird experimentiert, auf ORWO chrome oder TDK aufgenommen. Neue Punkbands werden eine nach der anderen im ganzen Land geboren. Von ihnen sind einige zu nennen – Kontrol, Milena, Review, Chipodil, Cholera, Abort, Kokosha glava, Remont, Ave Maria, Regionalna Psychoza, Bitov Terror, TWU, Wtoroto nazionalno nisto (Das zweite nazionale Nichts), Kale, Experiment… In Varna, am Schwarzen Meer, erscheinen viele Gruppen, inzwischen auch die Gruppe mit dem längsten Namen „Niemals guck Bilder zur Beruhigung vor dem Tod“„Никога преди смъртта не гледай миражи за успокоение”, dessen Lieder „Fleischbällchen mit Sauce“ oder „Kakerlake Goscho“ regionale Hits werden, obwohl diese erst in die 90er Jahre im Studio aufgenommen werden. Von den vielen Gruppen in Varna sind auch „HBO“; „Lambi, Miro, Mimo und Taslaka Band“ und „Narcissus“ zu nennen. Führende Zentren der Punkmusik werden im Süden Bulgariens die Städte Dupnitsa und Blagoevgrad und besoders Kyustendil, der als Geburtsort des Punk BG gefeiert wird. Hier sind die „Neue Blumen“(Нови цветя) – Ende 1970er gegründet, die erste bulgarische Punkband, „Pseudochor“ , „T.K.Z.S.“ (dessen Album „Zarter Exhibitionismus oder Fata Morgana in braun” erst 1995 erscheint). Auch im Nordwesten Bulgariens, in Vratza, erscheint eine neue Band – “Schande”.
Hier ein Text des berühmten Lieds Onkel (Чичо) von Kale, das auch von Milena und Review gesungen wurde.
Beweg dein Gehirn, Onkel,
ärgere dich, das weiß ich, du,
Sag mal meinst du,
wenn ich falle, wird es immer noch weh tun?
Ob die Kappe alles verstopft
Wieso ist der Wein trocken, er fließt doch?
Sag mir, was ist die Avantgarde
und ob man Zensur essen kann?
Ende 1984, genau vor Weihnachten, beginnt im Süden Bulgariens eine große Aktion der kommunistischen Regierung – der gewaltsame Wechsel der türkischen Namen der bulgarisch-türkischen Bevölkerung durch slawische Namen. Bei dem Namenswechsel sind bei den meisten Namensänderungen die Anfangsbuchstaben erhalten geblieben: aus Redzeb ist Rumen geworden, aus Hassan zumeist Assen. Nach dieser Aktion, durch die kaum noch türkische Namen übriggeblieben sind, haben sich die Behörden etwas besonders Makaberes ausgedacht. Sie haben begonnen, in alten Familiendokumenten und Friedhöfen auch noch die Namen der Verstorbenen zu bulgarisieren. Die Aktion, von der kommunistischen Propaganda als eine Erinnerung an die authentischen bulgarischen Wurzeln und die vergessene bulgarische Identität gedacht, endet 1985 mit Blut, Protesten und Toten, die geheim von der bulgarischen Bevölkerung gehalten werden. Die Eskalation des Konflikts führt zu Auswanderung in die Türkei von mehr als 300 000 Menschen im Sommer 1989.
Dieser Namenwechsel ist in der bulgarischen Geschichte schon mehrmals passiert, aber nie öffentlich gewesen. Der bulgarische Staat fordert z.B. Anfang der fünfziger Jahre die Abwanderung von 150 000 Türken, zwischen 1968 und 1978 ermöglicht ein Abkommen mit Ankara die Auswanderung von 80 000 Türken.
Die Angst der Bulgaren vor den im Lande lebenden bulgarischen Türken hat historische Wurzeln. Immerhin hielten die Osmanen Bulgarien 500 Jahre unter ihrer Herrschaft, bis 1878. Es wird bis heute in Filmen, Büchern als die „dunkelste Zeit“ in der Geschichte Bulgariens beschrieben. Die nationalen Feier im Jahr 1981 zu „1300 Jahre Bulgarien“ dienen auch dazu, den Patriotismus zu wecken und zu stärken und den Mythos über den einheitlichen bulgarischen Staat zu verbreiten. Hinter dem Mythos steht Angst – die Angst, daß die Geburtenrate der bulgarischen Türken fast viermal so hoch ist wie die der ethnischen Bulgaren. Die Angst, daß die bulgarischen Türken hauptsächlich in den Gebirgsgegenden leben, während immer mehr Bulgaren in die Städte streben. So könnte es allmählich dazu kommen, daß immer größere Landstriche ausschließlich von bulgarischen Türken besiedelt würden. So lautet die Sprache der Propaganda und der Angst.
Die grausame Geschichte des Namenwechsels und Vertreibung von 300 000 Menschen, begonnen im Jahr 1984, bleibt bis heute große nationale und politische Wunde, ein kollektives Trauma, das noch nicht verarbeitet und geheilt ist.
1984 erscheint in der Sowjetunion der Film „Reue“ des georgischen Regisseurs Tengiz Abuladze. Der Film bleibt zunächst zwei Jahre verboten, aber mit der Perestrojka und den neuen Prozessen im Land schafft er es 1987 in den Kinos zu erscheinen. Der Film bekommt 1987 den großen Filmpreis in Cannes. In Bulgarien wird der Film im selben Jahr gezeigt und erreicht sofort einen Kultstatus.“Wenn diese Strasse nicht zum Tempel führt, wofür ist sie denn da?“
Der Satz, mit dem „Reue“ endet, wird fast alle bulgarischen Gespräche in die nächsten Jahre begleiten.
Im Jahr 2012 stieß ich – eine bulgarische Journalistin, Filmregisseurin und politi- sche Aktivistin – zusammen mit meinem Team während unserer Archivrecherchen zur Bulgarischen Staatssicherheit DS (Darzhavna Sigurnost) erstmals auf Filmbestände dieses Geheimdienstes. Mehr als 4000 Filme, die vom bulgarischen Innenministerium für eigene Zwecke produziert wurden, warten seitdem auf ihre Erforschung und Aufarbeitung: Spielilme, Dokumentationen, Beobachtungen, Verhöre.
Bislang (vor allem in den Jahren 2013 und 2014) wurden viele dieser Filme zusammen mit der Kuratorin Vessela Nozharova in Workshops und auf Veranstaltungen in Bulgarien gezeigt. Dadurch wurde ein starkes öffentliches Echo ausgelöst, das spürbar ein Nachdenken über die eigene Vergangenheit in Bewe-gung setzte.
Im April 2016 kuratierten der Berliner Filmwissenschaftler Claus Löser und ich die Retrospektive „Filme für die Sicherheit” im Rahmen des Dresdener Film-Festivals. Dort wurden Filmbeispiele aus dem DS-Archiv zum ersten Mal einem internationalen Publikum vorgestellt. Auch hier gab es ein star- kes Medien- und Zuschauerinteresse. Im März 2017 wurden einige der bulgarischen Geheimdienst-Filme auf einer Veranstaltung des Stasi-Unterlagen-Archivs (BStU) in der früheren MfS-Zentrale in Berlin gezeigt.
Im Rahmen der weiteren Erforschung des Bestandes war ich Stipendiatin der
Die Filmbestände der Bulgarischen Staatssicherheit DS sind ein äußerst spannendes, aber auch widersprüchliches und bisher noch weitgehend unerforschtes Gebiet. Das liegt vor allem an der besonderen Situation der Geheimdienstakten in Bulgarien nach 1989. Ein Blick zurück in das Jahr 1990 verdeutlicht die Ausgangslage: Die Öffnung der DS-Akten wird als eine zentrale Bedingung für die Demokratisierung Bulgariens am „Runden Tisch“ genannt. Aber noch im gleichen Jahr werden schätzungsweise 40 Prozent der Staatssi- cherheitsakten zerstört. Zum ersten Mal werden die erhaltenen Aktenbestände durch ein Gesetz im Jahr 1997 geöffnet, allerdings werden 2002 die Möglichkeiten zur Akten-Einsicht schon wieder beendet. Erst mit einem neuerlichen Gesetz im Jahr 2006 – kurz vor dem Beitritt Bulgariens zur Europäischen Union am 1. Januar 2007 – beginnt eine kontinu- ierliche Aufarbeitung der DS-Vergangenheit.
Eine vom bulgarischen Parlament 2006 gewählte DS-Akten-Kommission ist die erste Initiative, die beginnt, ein eigenes Archiv außerhalb des Innenministeriums zu errichten. Das Paradoxe daran: Das Gesetz wurde mit einer Mehrheit der sozialistischen Partei BSP, den ehemaligen Kommunisten, ermöglicht, obwohl diese sich in der Vergangenheit immer gegen ein solches Akten-Gesetz gewehrt hatten. Zum Vorsitzenden der Kommission wird ein ehemaliger Mitarbeiter des Innenministeriums gewählt. Seit 2010 beginnt die Kommission damit, nicht nur schriftliche Dokumente, sondern auch elektronische und filmische Materialien aus allen ehemaligen regionalen Geheimdienst-Abteilungen des Innenministeriums zu sammeln. Die Katalogisierung, Digitalisierung und Bereitstellung eines öffentlichen Zuganges zu den Archivbeständen sind bis heute nicht abgeschlossen. So existieren beispielsweise keine vollständigen Informationen über den genauen Zustand des Filmguts, keine exakten Zahlen zum Umfang des Filmbestandes oder zu den konkreten Filminhalten.
Obwohl die Filme – wie beschrieben – noch nicht umfassend erforscht sind, lässt sich schon Einiges über das Archivgut in seiner Gesamtheit aussagen. Der grobe Umfang der überlieferten DS-Filme entspricht mehr als 4000 Einheiten (im Jahr 2012 war noch die Rede von „mehr als 1000” Filmen), davon mehr als 400 Videos und über 800 35mm-Filme. Die letztgenannte Filmgattung stammt aus verschiedenen Jahrzehnten – von Anfang der 1960er bis Ende der 1980er Jahre – und diente vorrangig der Propaganda nach innen. Gezeigt werden darin Verhöre, die in einigen Fällen mit versteckter Kamera gedreht wurden, aber oft auch mit Wissen der Beteiligten entstanden. Es handelt sich um ilmische Selbstdarstellungen, Dokumentationen über die Arbeit in regionalen Abteilun- gen, Beiträge über Naturkatastrophen und besondere Ereignissen, Aufnahmen von Gerichtsprozessen, Kopien von so- wjetischen Lehrilmen, Fernsehproduk- tionen im Westen oder Spielilme aus eigener Produktion.
Was aber nahmen der Geheimdienstmitarbeiter filmisch überhaupt ins Vi- sier? Welche konkrete Bedeutung hatten die Aufnahmen für die Arbeit des bulgarischen Geheimdienstes? Welchen Stellenwert hat das ilmische Archivgut für die Aufarbeitung heute? Ich werde versuchen, diese Fragen – zumindest in Grundzügen – zu beantworten, einige Beispiele aus den aufgefundenen Filmen darzustellen, eigene Reflexionen zu den öffentlichen Veranstaltungen anzustellen und meine Begegnungen mit dem bulgarischen Publikum mitzuteilen.
Filmstudio Dimitroff
Alle DS-Filme wurden vom darauf spezialisierten „Filmstudio Georgi Dimitroff” der Hochschule des Innenministeriums produziert. Diese Einrichtung war eine Art „Agenten-Akademie” in Bulgarien, auch “Simeonovo-Schule” genannt (wie die Nachbarschaft von Sofia bezeichnet wird, in der das Gebäude lag). Die Schule trug, wie viele andere Instituti- onen während der sozialistischen Ära, den Namen des bulgarischen Politi- kers und Funktionärs Georgi Dimitroff (1882–1949). Dieser war von 1935 bis 1943 Generalsekretär der Kommunisti- schen Internationale (Komintern) und ab 1946 bulgarischer Ministerpräsident, eine Kultigur in Bulgarien nach seinem Tod 1949. Sein Leichnam wurde einbal- samiert und in einem ihm zu Ehren er- richteten Mausoleum im Zentrum Soias beigesetzt. 1990 wurde sein Leichnam auf den zentralen Friedhof der Haupt- stadt umgebettet. Das Mausoleum wur- de am 21. August 1999 gesprengt.
Alle Selbstdarstellungsilme des „Dimitroff-Instituts“ sind als „normale Filme“ gekennzeichnet, das heißt mit Titeln, Autorennamen und anderen typischen Filmangaben versehen. Unter den Autoren kann man sogar einige be- kannte Namen der bulgarischen Filmin- dustrie entdecken. In Soia galt das Film- studio unter Fachleuten als eine sichere Geldquelle, um sich etwas Nebenher zu verdienen. Bei solchen Produktionen mitzuarbeiten war für Filmschaffende beinahe etwas Selbstverständliches und wurde nicht als Besonderheit oder Ge- heimnis betrachtet. Viele dieser Filme unterscheiden sich kaum von den ofiziellen Fernsehproduktionen der Zeit: Feierlichkeiten und Jubiläen wurden für die Nachwelt aufgezeichnet, Erfolgser- lebnisse festgehalten, volkskünstlerische Betätigungen dokumentiert. Fazit: Lang- weilig, langatmig, belehrend, redun-dant, mit großem Pathos.
Verhöre
Die Verhör-Filme sind wohl der interessanteste Teilbestand des DS-Filmarchivs. Im Unterschied zu den Selbstdarstellungsilmen, bei denen uns die Autoren bekannt sind, wissen wir nicht, wer die Verhöre gedreht und hergestellt hat (bzw. den Ton, die Kamera, den Schnitt ausführte) oder mit welchen Zielen diese Filme seinerzeit entstanden. Eine mögliche Erklärung ist, dass das Material bei Ermittlungen oder für geplante Gerichtsprozesse gegen die Protagonisten, also die Verhörten, benutzt werden sollte. Die noch erhaltenen Verhöre zeigen Dissidenten, ehemalige DS-Mitarbeiter oder auch Mitglieder der kommunistischen Partei Bulgarien (BKP), die wegen unterschiedlichster „Verfehlungen“ verurteilt und bestraft wurden.
Wir wissen bisher ebenfalls nicht, warum manche Verhör-Filme erhalten blieben und andere nicht. Das Anschauen dieser speziellen Filme ist für uns als Zuschauer mehrdeutig. Es fordert uns eine innere Auseinandersetzung ab, um mit dieser Ungewissheit umzugehen. Bedeutsam ist, dass genau diese Verhöre bei der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit Bulgariens helfen können, da sie eine klare Verbindung zwischen den gesellschaftlichen Verhältnissen damals und heute offenlegen.
Beispielsweise kann man Muster einer Propaganda-Sprache hören, die oft kaum von der Gegenwart in Bulgarien unterscheidbar ist. Auch sind Gesichter und Namen von Personen zu erkennen, die aktiv beim DS gearbeitet haben, bis heute hohe politische Ämter einnehmen oder eine wichtige Rolle in der bulgarischen Gesellschaft spielen. Bevor konkrete Beispiele aus dem DS-Archiv folgen, müssen noch einige Details im Verlauf der schleppenden Aufarbeitung in Bulgarien erwähnt werden. Wegen mangelnder Kontinuität in der Öffnung der DS-Akten, wird das Thema seit vielen Jahren für politische Interessen missbraucht.
In allen bulgarischen Regierungen nach 1989 (auch geduldet durch die jeweilige Opposition) gab es ehemalige Mitarbeiter oder Agenten der DS. Intransparenz und Widersprüchlichkeit in Bezug auf die DS-Vergangenheit haben dazu geführt, dass es heute keinerlei Scheu oder Reue derjenigen gibt, die als ehemalige DS-Mitarbeiter enttarnt wurden/werden.
Der von 2002 bis 2012 amtierende bulgarische Präsident Georgi Parvanov (BSP) ist 2007 im Amt geblieben und hat sich nie dafür entschuldigt, dass er als Geheimagent „Goze“ tätig war, was zweifelsfrei aus Angaben der DS-Kommission hervorgeht.
Wo also sind die vielen früheren DS-Ofiziere und Agenten abgeblieben?
In den 1990er Jahren war Sofia fast wöchentlich Schauplatz blutiger Schießereien eines landesweiten Netzes von Mafia-Klans, denen häuig ehemalige Geheimdienstler als Mitglieder oder Berater zur Seite standen. Viele Ex-DS-Mitglieder hatten sich noch vor dem Untergang des Kommunismus materiell vorgesorgt. Gemeinsam mit den Bossen der Unterwelt wurden neue Wirtschaftsimperien gegründet, Fußballclubs aufgekauft oder Zentren für Geldwäsche organisiert. Die sogenannte „Ringer-Mafia“ bildete einen Grundsteine der post-kommunistischen Entwicklung, und zwar mit jenen einst weltweit gefragten bulgarischen Sportlern, von denen der DS viele zu Topagenten ausbilden ließ.
In den Jahren 2013 und 2014 gab es die größten und intensivsten Pro- teste seit 1990 in Bulgarien (insgesamt 405 Tage lang), die schließlich durch die Regierung Oresharski beendet wurden. Ausgelöst wurden die Protestdemonstrationen durch die Wahl des Medienmoguls Deljan Peewski zum Chef der Staatlichen Agentur für Nationale Sicherheit (DANS), quasi der post-kommunistischen Nachfolgeinstitution des DS. Zum Zeitpunkt seiner Ernennung wurden dem damals 33-jährigen Peewski enge Beziehungen zur organisierten Krimina- lität nachgesagt. Der Hashtag ДAHCwithme (ein Wortspiel: Tanz mit mir) ist zu einem Symbol der Proteste geworden.
Besonders zwei Verhör-Filme aus dem DS-Bestand zeigen die enge Verknüp- fung zwischen den alten Strukturen mit der politischen Gegenwart.
Familie Popov
Ein anderes verstörendes Verhör, es ist bislang das einzige im Archiv, das mit einer versteckten Kamera gedreht wurde, hat weitere ethische und gesellschaftli- che Fragen aufgeworfen.
Im Jahr 1983 wird der Familie Popov (Vater, Mutter und Sohn) erlaubt, in die Bundesrepublik auszureisen. Zwei Ge- heimdienstofiziere sprechen mit der Familie, wie sie sich im Westen „benehmen“ soll. Wir sehen die Vernehmer nicht, wir können sie nur hören. Während des gesamten Verhörs zeigt die Kamera nur die drei Familienmitglieder: die Mutter, den 15-jährigen Sohn, in der Mitte sitzend, und den Vater. Hinter dem „Fall Popov” steckt die Geschichte eines Arztes und Menschenrechtlers, die bis heute in Bulgarien unbekannt ist. Über den Vorgang wurde in den ofiziel- len Medien des Landes nie berichtet und er blieb somit außerhalb der kollektiven Erinnerung. Das individuelle Leiden eines Oppositionellen und seiner Familie (die große Unterstützung und Aufmerksamkeit im Ausland bekam) war bisher aus der bulgarischen Geschichte entfernt. Dank des erhaltenen Verhörs kann es wieder einen Platz im politischen Gedächtnis Bulgariens finden, einen Ort der Erinnerung.
Wenn man das Video der Familie Popov sieht, bei dem die Protagonisten nicht wussten, dass sie gefilmt werden und in dem ein Minderjähriger anwesend ist, stellt sich die ethische Frage: Wie gehen wir damit um? Werden die Opfer des DS durch jedes erneute Abspielen des Videos nicht immer wieder zu Opfern? Etwa durch das öffentliche Teilen des Leidens und die Möglichkeit, dass dieses Video in die Hände von For- schern oder im Internet an die allgemeine Öffentlichkeit gelangt? Bei unseren Veranstaltungen und Workshops haben wir uns diese problematischen Fragen immer wieder neu gestellt. Die Mitglieder der Familie Popov in München sind inzwischen verstorben und nie nach Bulgarien zurückgekehrt. Unbekannt ist jedoch das Schicksal des damals 15-jäh- rigen Sohnes.
Wir können uns von direkten Fragen an uns selbst nicht befreien. Das Unbehagen zu verstehen und nicht zu ignorieren, bleibt eine wichtige Aufgabe der zukünftigen Archivarbeit und eines verantwortungsvollen Umgangs damit.
Der Lyriker Petar Manolov
Im Januar 1989 wird der Lyriker Petar Manolov im Gebäude der bulgarischen Staatssicherheit von einem sich namentlich vorstellenden Ofizier nach den Intentionen seiner Dichtung befragt. Der 1939 geborene Manolov, Sekretär des 1988 gegründeten unabhängigen Vereins für Verteidigung der Menschenrechte, beindet sich schon seit 30 Tage im Hun- gerstreik, weil der DS seine literarischen Werke sowie Dokumente des Vereins beschlagnahmte. Der Autor protestierte auch gegen den zwangsweisen Identitätswechsel der türkischstämmigen Minderheit in Bulgarien. Der Staatssicherheitsofizier verhört ihn hinsichtlich seiner Ideen und Literatur. Der Mitschnitt der Verhörs ist ein einmaliges Dokument des bulgarischen Widerstands am Ende der 1980er Jahre.
Das Besondere an diesem Archivfund ist nicht nur der bizarre Dialog zwischen den beiden Kontrahenten, sondern die verstörende Realität, die dieses Duell für uns noch heute ausstrahlt.
Manolov, der Dissident, ist für heutige Zuschauer (gerade für Jüngere) zumeist unbekannt. Nicht unbekannt ist der Vernehmende, der Ofizier Angel Vassilev Alexandrov, der nach 1989 eine öffentliche Karriere machte und bis vor kurzem (2015) eine hohe Stelle als Direktor des nationalen Ermittlungsdienstes innehatte. Somit bestanden auch Verbindungen zur Karriere zum Unternehmer Peewski, der – wie zuvor beschrieben – die politischen Pro- teste des Jahres 2013 auslöste.
Die Entdeckung des gefilmten Manolov-Verhörs sorgte für große Aufmerk- samkeit in Bulgarien. Plötzlich war ein öffentliches Interesse an diesem Filmarchiv geweckt, das bis dahin nahezu unbekannt war. Verhöre aus dem DS-Archivbestand wurden in mehreren Dokumentarilmen als Quelle und Zeugnis für die Verbindungen zwischen alten und neuen Machtstrukturen verwendet.
Auseinandersetzung und Aufarbeitung
Es ist erstaunlich zu beobachten, welche Emotionen die Ausschnitte aus Verhören des DS-Archivs bis heute auslösen. Durch ihre visuelle Sprache ermöglichen die Filme einen neuartigen Zugang zu einem Teil der bulgarischen Geschichte, der sich bislang – gerade bei jungen Menschen – sehr selten erschließt. Die DS-Filme wecken bei Zuschauern in Bulgarien, aber auch beim internationalen Publikum in Westeuropa, gewisse Ängste und evozieren Erinnerungen, die mit der Gegenwart in direkter Beziehung stehen: Grenzkontrollen, Polizeigewalt, plötzliches Ausgeliefertsein gegenüber Behörden, Repressionen, Überwachung.
Diese Wahrnehmungen schließen auch die Frage mit ein, wie schnell wir selbst die Rolle des Vernehmers übernehmen würden? Es entsteht ein diffuses Unbehagen, mit dem sich jede/r anders auseinandersetzt und umgeht.
Obwohl die Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur und insbesondere die Rolle der Geheimpolizei in Bulgarien auf unterschiedliche Weise blockiert und behindert wird bzw. wurde, zeigt das neu entdeckte Filmgut, dass es keine unnötigen oder überlüssigen Archive gibt. Auch mit Resten und Fragmenten kann man arbeiten, weil darin Spuren und Kontexte enthalten sind, die durch uns neu gesehen und gelesen werden können.
„Trauma, Gedächtnis und Heilung. Wie kann Yoga helfen“ (Memory, trauma and healing. How yoga can help) war ein Thema des GOATMILK FESTIVALS 2019.
Drei Yoga-Lehrerinnen, die mit Trauma arbeiten, waren da – Vesna Kostic aus Serbien, Minna Jarvenpaa aus Finnland, die in Lebanon arbeitet, und Regina Weiser aus Deustchland.
Das Gespräch mit Regina Weiser, Dozentin bei TSY ingradual, Yoga-Lehrerin und Psychoanalytekerin, haben wir nach dem Festival geführt.
Hier kann man das lesen.
Vom 24. bis 26. Mai 2019 fand das Internationale Goatmilk Memories Festival in dem kleinen Ort Bela Rechka im Nordwesten von Bulgarien bereits zum 16. Mal statt. Bulgarien ist eins der ärmsten Länder innerhalb der EU und innerhalb Bulgariens ist der Nordwesten der ärmste Teil.
Seit 16 Jahren bringt das interdisziplinäre Festival Menschen aus verschiedenen Bereichen (Kunst, Literatur, Film, Yoga, Therapie usw.) zusammen, um in die oft vernachlässigten und vergessenen Winkel etwas mehr Lebendigkeit und Kultur zu bringen und Sensibilität für den Umgang mit Erinnerung zu entwickeln.
So fand sich an diesen drei Tagen ein vielfältiges und kreatives internationales Miteinander in diesem kleinen Ort mit den vielen verlassenen und zerfallenen Häusern ein. Darunter waren auch drei Yogalehrerinnen, eine finnische (Minna Jarvenpaa), die viel im Libanon mit Flüchtlingen arbeitet, eine serbische (Vesna Kosic), die in Belgrade mit traumatisierten Menschen arbeitet, und die TSY-Dozentin Regina Weiser. Im Rahmen des Festivals initiierte Diana Ivanova (eine der beiden Hauptorganisatorinnen) eine Podiumsdiskussion unter dem Namen „Memory, Trauma and Healing. Can Yoga help?, die sich mit der Frage beschäftigte, inwieweit können auch kollektive Traumata mit traumasensiblem Yoga therapeutisch gelindert und geheilt werden? Die Nachwirkung dieses besonderen Events führte zu dem folgenden Interview.
Diana Ivanova ist vom Grundberuf Journalistin und Künstlerin, arbeitet zurzeit vermehrt als Gruppenanalytikerin und Yoga-Lehrerin in Deutschland, Italien und Bulgarien
Regina Weiser ist analytische Psychotherapeutin, Traumatherapeutin, Trauma-Yogatherapeutin (TSY ingradual®), Autorin und Dozentin für traumasensibles Yoga (TSY ingradual® GbR)
Regina Weiser
Diana: Als meine Mutter starb, 1999, bin ich auf Yoga gekommen, da hat mir Yoga viel geholfen. Solche traurigen Ereignisse eröffnen manchmal eine neue Perspektive. Ich war damals als Journalistin tätig in Prag, bin aber dann nach Bela Rechka gegangen, dem Ort, wo meine Mutter groß geworden ist. Die Verbindung mit der Heimat und den Menschen dort war mir plötzlich sehr wichtig. Durch die neuen Erfahrungen, die ich nach meiner Rückkehr gemacht habe, bin ich zu der Gruppenanalyse gekommen und habe 6 Jahre eine Ausbildung in Altaussee bei der Internationalen Gesellschaft für Gruppenanalyse gemacht und abgeschlossen, weil ich merkte, die Menschen hier im Nordwesten Bulgariens brauchen etwas mehr – und (das ist das wichtigste) – ich selbst brauche meine Verbindungen mit dem Nordwesten, wo ich geboren bin, besser zu verstehen. Parallel habe ich weiter mich intensiv mit Yoga beschäftigt, war mehrmals in Indien und habe eine Ausbildung mit der Satyananda Yoga Academy Europe (SYAE) absolviert.
Yoga ist ja jetzt sehr eine Mode geworden, viele machen es, um sich fit und gestylt zu fühlen. Aber wenn das das einzige Ziel ist, entfernt man sich von dem Eigentlichen. Ich schätze sehr, was Ihr mit dem Traumasensiblen Yoga macht. Es hilft, sich wieder verbunden zu fühlen. Es hilft, sich selbst zu retten. Ich konnte mit Yoga in den vielen Jahren mein Leid und meinen Schmerz bewältigen, und überhaupt: meine innere Welt neu wahrnehmen. Manche Ereignisse öffnen eine neue Tiefe. Die Tiefe, die ich in mir selbst finden kann. Ich will auch anderen helfen, sich wieder verbunden fühlen zu können. Yoga hat für alle was zu bieten, auch für die Alten, die sehr unter den Ereignissen der letzten 30 Jahre gelitten haben. Sie können viel profitieren, die Gelenke wieder flexibler werden zu lassen und den Atem zu verändern und zu vertiefen, das kann auch den einfachen Menschen helfen. Gerade die Revolution vor 30 Jahren hat deutlich gemacht, wie viele Unsicherheiten und Herausforderungen das Leben immer wieder bringt. Yoga bringt mich zur Mitte und zur Ruhe. Ich kann etwas für mich tun und für meinen Körper und meine Seele. Einen Anker im Innern können alle finden, egal ob sie in einer Diktatur oder einer Demokratie leben, es ist überall möglich, genau dort wo man gerade ist.
Aber ich würde Dich für Deine Perspektive fragen – gibt es Gemeinsamkeiten von individuellen und kollektiven Traumata?
Regina: Die Wirkungen auf den Einzelnen sind in jedem Fall sehr ähnlich: Das individuelle Trauma führt zur Sprachlosigkeit, Ohnmachtsgefühlen und Handlungsunfähigkeit. Bei einem kollektiven Trauma wie z.B. in einer Diktatur, auf der Flucht oder im Krieg kann man sehr ähnliche Wirkungen bei einer Vielzahl von Menschen beobachten. Die körperliche Bewegungsfreiheit und die seelische Unbeschwertheit werden in beiden Fällen eingeschränkt. Ein Trauma macht in beiden Fällen starr, unflexibel und leicht reizbar.
Diana: Wo siehst Du Unterschiede?
Regina: Bei einem kollektiven Trauma hängt es ja sehr davon ab, wo in der Gesellschaft mein Platz ist. Im Krieg ist es z.B. ein Unterschied, ob ich Soldat bin, der töten muss, obwohl er nicht will. Ob mein Haus zerstört, mein Körper unwiederbringlich verletzt oder ein Familienmitglied getötet wird. Ein kollektives Trauma wirkt nicht auf alle Beteiligten gleichermaßen. Aber auch individuelle Traumata zeigen nicht bei allen Betroffenen die gleiche Wirkung, ob es sich z.B. um destruktive Familienverhältnisse oder sexuellen Missbrauch handelt. Oft gibt es bei einem Kollektivtrauma eine unterschwellige Verbundenheit, in der man sich solidarisch fühlt („den Anderen geht es auch nicht besser“). Das Individualtrauma vereinzelt mehr, führt zu Scham und Isolierung.
Diana: Kann man die Heilungsmethoden vom Individuellen auf das Kollektive übertragen?
Regina: Der Einzelne kann theoretisch auch auf der Flucht, in einer Diktatur oder im Krieg für sich sorgen oder auch in Gruppen Yoga üben. Den Psoas zu dehnen, das Kehl- und Herzchakra zu öffnen ist in allen gesellschaftlichen Umgebungssituationen möglich. Die Maxime „safety first“ macht es jedoch natürlich an manchen Stellen sehr viel schwerer. Es gibt Beispiele, wie Menschen im Gefängnis oder im Lager Yoga üben. Aber inwieweit kann sich der einzelne auch wirklich befreien? Ein individueller Befreiungsversuch kann zu Widerstand gegen eine Diktatur ermutigen, ob das sinnvoll ist, muss jeder für sich alleine klären, es ist eine Frage. Wir erleben ja gerade in den Medien, wie eine mutige Kapitänin sich gegen die staatlichen Anordnungen durchsetzte, mit ihrem Flüchtlingsboot auf Lampedusa gelandet ist und verhaftet wurde.
Du aber, glaube ich, hast mehr Erfahrungen mit kollektiven Traumata als ich. Was denkst du darüber?
Diana: Bei kollektiven Traumata denken viele zuerst an Krieg und Flucht. In meinem Leben wurde plötzlich die Frage interessant: Was macht eine Revolution mit den Menschen? Es gab eine sehr starke und sehr plötzliche Veränderung unserer Gesellschaft durch das, was 1989 passierte. Von Einigen (wie von mir und meinen Freunden, damals Studenten) wurde dieser Wandel sehr stark gewollt und von anderen gar nicht. Als mir das bewusst wurde, dass das für einige Bulgaren traumatisch war, hat es mich sehr erstaunt: Was wir als Studenten wollten, war für einen Teil der Bevölkerung traumatisierend. Aus der Perspektive des alten Systems hieß das: Plötzlich war die Versorgung in den Krankenhäusern nicht mehr kostenlos, jeder musste von der eigenen Tasche zahlen und durch die schnelle Inflation war das Geld, was man jahrelang gesammelt hat, weg. Um paar Beispiele zu geben – man musste ins Krankenhaus mit eigenem Kissen, Bettzeug und allen nötigen Mitteln gehen, sonst wurde man nicht aufgenommen. Viele Leute müssten plötzlich irgendwie überleben. Mein Vater hat beobachtet, wie unser Nachbar in Montana, Direktor des historischen Museums, ein gebildeter Mann in Rente, in den Mülleimern auf unserer Straße am Abend Essensreste gesammelt hat. Viele Rentner, auch meine eigenen Eltern, haben die Städte verlassen und sind in die Dörfer zurückgegangen, um die Lebenskosten zu reduzieren und von der eigenen Gemüseproduktion im Garten zu leben. Überhaupt – die Wende war für viele Menschen ein Schock, ein Trauma. Wofür vorher der Staat sorgte, fiel alles weg. Bis heute wird es nicht als Triumph erlebt, dass wir in einer Demokratie leben. Jeder musste sich alleine retten. Ich als diejenige, die als Studentin diesen Umsturz wollte, bin plötzlich in Einsamkeit geraten, weil die größere Hälfte der Bevölkerung es anders erlebt hat und auch anders wollte. Viele Leute, die damals diese Entfremdung gegenüber den anderen gespürt haben, haben das Land verlassen. Fast 2 Millionen Bulgaren leben im Ausland. Das trifft auf viele postkommunistische Länder zu: Die Jungen wollten Veränderung, für die Älteren war es eine Belastung: eine plötzliche unerwartete Veränderung von allem, was vorher richtig und sicher war (es ist natürlich nicht nur ein Konflikt zwischen der jüngeren und der älteren Generation, das wäre zu einfach). Die Revolution war nicht geplant, wie jede Revolution, die Ereignisse überstürzten sich. Es wurde von Jedermann verlangt, dass er sich anpasst an das, was die neuen Zeiten wollen, und von jetzt auf gleich etwas anders machen muss. Anpassen konnten sich aber nur diejenigen gut, die an der Macht waren, aber nicht die einfachen Leute. An die Macht gekommen sind die Leute, die das System für sich nutzen konnten, ein kleiner Teil der Bevölkerung. Die Gerechtigkeit ist auf der Strecke geblieben. Bis heute.
Regina: Ich habe mal eine Zeitlang Yoga-Fortbildungen in der „Beratungsstelle für die Opfer der SED-Diktatur“ in Berlin gegeben, da habe ich viel Ähnliches kennengelernt.
Diana: Es gab von uns aus dem Ostblock viel Neugier auf das, was aus dem Westen kommt, aber das war eine Einbahnstraße. Es gab keine gegenseitige Neugier, kein Interesse sich gegenseitig kennen zu lernen. Es war schmerzhaft, das festzustellen. Das war auch einer der Gründe das Goatmilkfestival in Bela Rechka mitzuinitiieren: Es ist seit 16 Jahren ein internationaler Begegnungsort, wo man sich so zeigt, wie man ist. Einheimische sollen auf Augenhöhe mit Menschen aus anderen EU-Ländern sprechen können. Oft wird von Bulgaren gesagt, wenn man sich mit Menschen aus dem Westen trifft, sollte man sich besser stellen als man ist. Diese Klischees von der Osten und der Westen sollen überwunden werden, damit wieder Vertrauen in uns Menschen, in das zwischenmenschliche wächst. Das Wort „Solidarität“ soll wieder mit Inhalt gefüllt werden. Wir können zusammenwachsen und viel mit einander und gemeinsam tun.
Regina: In der ehemaligen DDR war das auch so, habe ich immer gehört: der eine kann das, der andere was Anderes, man hilft sich gegenseitig. Da muss noch viel in der EU aufgearbeitet werden. Gab es Solidarität früher zur Zeit des Kommunismus mehr?
Diana: Auf jeden Fall – Ja! Natürlich wurde das Wort auch vom Staat missbraucht, man musste aus Solidarität z.B. mit den Bauern bestimmte Arbeiten gemeinsam tun, ob man wollte oder nicht, also nicht freiwillig. Aber darunter gab es auch viel echte Solidarität, man hat z.B. zusammen ein Haus gebaut und sich gegenseitig geholfen. Heute gibt es nicht mehr diese Solidarität, die es früher gab. Vor allem – eine große Unsicherheit verhindert, dass man sich zusammensetzt und austauscht. Es geht nicht darum, zusammen zu feiern, das können die Bulgaren gut, sondern dass man sich über die unterschiedlichen Positionen ehrlich austauscht.
Regina: Was Du erzählst, macht deutlich, wie wichtig es ist, diese unterschiedlichen Perspektiven zu verstehen. Glaubst Du, dass Yoga auch in dieser Situation und in dieser Umgebung etwas bewirken kann? In diesem Jahr waren ja zum ersten Mal auch drei Yogalehrerinnen in Bela Rechka. Und es gab eine Podiumsdiskussion mit uns. Was hat das gebracht?
Diana: Ich war erstaunt, wie viele im Yoga Kurs dabei waren. Es wurde gut aufgenommen. Das Interesse war groß. Bela Rechka ist ja ein ganz einfacher Ort mit nur 50 Einwohnern. Ich überlege selbst, mit älteren Menschen dort mehr zu machen, wenn ich da bin: Yoga auf Stühlen kann man an jede Altersgruppe anpassen. Mit Yoga etwas bewegen, was vorher starr, steif und unflexibel war. Die Menschen in Bulgarien sind auf der Suche, viele suchen neue Anker im Inneren. Ich erinnere mich, vor etwa 10 Jahren haben wir mit einer Theatergruppe in Bela Rechka ein Theater der Sinne mit dem Namen „Labyrinth“ gemacht, viele alte Menschen aus dem Dorf waren da. Ich habe kurz die Hände von allen gehalten, am Anfang des Theaterstücks, eine sehr starke Erfahrung für mich, ich konnte spüren, wie wenig sie berührt werden.
Regina: Angela spricht immer von der Wichtigkeit der basalen Stimulation. Der Berührungssinn ist der erste Sinn, der sich entwickelt. Ich habe gerade das Buch von Joachim Bauer Wie wir werden, wer wir sind gelesen. Darin schreibt er: Die Art und Weise, wie der Vater oder die Mutter das Kind beim Wickeln, Anziehen oder Windeln wechseln berührt, gibt dem Kind das Gefühl, ob es wichtig ist und geliebt wird oder ob es der Mitwelt eher lästig ist. Vieles ist möglich auch ohne Sprache, das merke ich auch, wenn ich mit Geflüchteten arbeite. Mitmachen und nachmachen kann auch Einer, der die Worte nicht versteht. Das gemeinsame Tun erzeugt ein Verbindungsgefühl, man kann das verlorene Vertrauen in die Welt wiederfinden.
Diana Ivanova
Diana: Ja, dieses Gefühl, das wir gemeinsam verbunden sind und bleiben, egal wer was ist, ist sehr wichtig. Ich glaube, mit dem gemeinsamen Tanzen jedes Jahr im Zentrum von Bela Rechka auf dem Festival, mit der Brass Band aus der Nachbarstadt, wo alle, Alt und Jung, arm und reich, gemeinsam tanzen, erleben wir immer wieder diese tiefe Verbundenheit. Ich glaube mittlerweile, das ist etwas ganz archaisches Bulgarisches. Ich liebe es, ich spüre es sehr tief. Einmal im Jahr in Bela Rechka.
Und noch etwas sehr Wichtiges dazu – weil im Kommunismus vieles vertuscht wurde, war es wichtig, bisher Verbotenes zur Sprache zu bringen. Das brauchte auch Zeit und hat viel Melancholie nach oben gebracht. Ich glaube aber, jetzt ist dran, nicht nur über die schlimmen Erfahrungen, sondern wieder über die Freude zu erzählen. Ich finde es selbst wichtig, der Freude mehr Platz zu geben, ohne das Schlimme zu verleugnen. Ich habe gerade das Buch von Verena Kast gelesen „Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben. Die Kraft des Lebensrückblicks” (das Buch lag auf dem Tisch meines Schwiegervaters, der vor kurzem gestorben ist). Sie schreibt wie wichtig ist, unsere Lebensgeschichte nicht nur unter dem Aspekt der Schwierigkeiten zu erzählen, sondern auch aus der Perspektive der Freude – danach zu fragen wie und in welchen Situationen Freude erlebt wurde. Also – gerade im letzten Abschnitt des Lebens, eine Freudenbiografie zu schreiben. Es ist wichtig, nicht nur den Schmerz zu sehen. Narben sind da, aber nicht nur Narben, man kann auch die Freude über den Körper und seine Lebendigkeit spüren.
Regina: Den Atem in alle Zellen des Körpers führen und spüren. Die Enge überwinden: Aaah da kommt wieder Freiraum in meinen Brustkorb! Beides sind Extreme: nur an das Schlimme oder nur an das Gute zu denken. Der Traumaverarbeitungsprozess findet im Wechsel von auftauchen lassen und wieder sinken lassen statt. Trigger sind der Ruf der Seele nach Integration: das Traurige will gesehen werden, aber danach will auch die Leichtigkeit gelebt werden. Es gibt Übungen, die helfen zur Ruhe zu kommen, und andere führen in die Aktivität und in die Kraft oder Freude. Beides will Raum haben.
Diana: Was gehört noch zu den Kernpunkten beim traumasensiblen Yoga?
Regina: Uns ist das Spüren wichtig. In manchen Fitness-Studios wird gesagt: Geh über deine Grenzen. Das wirst Du bei uns nicht hören. Es ist wichtig, die eigenen Grenzen zu kennen und vor allem zu spüren. So kann es wichtig sein, mal bewusst über die Grenze zu gehen mit der beobachtenden Frage: wo ist der Punkt, an dem ich anfange, mehr zu verspannen? Es geht um das Spüren: was tut mir gut, was braucht mein Körper? Die eine Person genießt die Herzöffnung und der andere braucht mehr Standfestigkeit oder Flexibilität in den Kniegelenken, also den inneren Arzt zu aktivieren. Wenn ich mit mir selber fürsorglich umgehe, kann ich mich auch anderen gegenüber einfühlender verhalten.
Diana: Unser Austausch freut mich und ich bin Dir sehr dankbar.
Regina: Ganz meinerseits! Ich glaube, wir sind mit der Frage nach der Heilung von kollektiven Traumata erst am Anfang. Nicht nur die Bulgaren, auch wir Deutschen haben ja kollektive Traumata erlebt. Es wäre schön, wenn wir nach einiger Zeit das Thema nochmal aufgreifen und vertiefen!
Im Herbst 2018 traf ich in Sofia die finnische Schriftstellerin Riina Katajavuori. Nach sehr interessanten Gesprächen hat sie mir über das Festival der Stille in Lapland erzählt. Ich war sehr beeindruckt.
Hier erzählt sie selbst über unser Treffen in Sofia.
Der Newsletter wird von mir 1 Mal im Monat versendet.
Der Newsletter-Erhalt kann jederzeit widerrufen werden.