UNRUHE
Diana Ivanova
Was hat mich bei diesem Foto so unruhig gemacht?
Nach dem Abend in Remagen am 24. März 2022 denke ich noch mal darüber nach. Es tauchen spontan neue Gefühle auf.
Natürlich, ist die Unruhe auch damit verbunden, dass ich mich mit meiner Uroma Mina nicht wirklich verbinden konnte. Mich hat alles bei diesem Foto gestört – diese Schleier im Gesicht, diese unklaren Konturen, das verschwommene. Und überhaupt – das ganze Familienfoto hat mich gestört, das nichts für mich transportieren konnte, außer Unruhe, das aber als etwas ganz Kostbares in diesem eindrucksvollen Eichenrahmen stand, als ein Kunststück für sich, als etwas ganz Besonderes, was die Menschen in diesem Haus aufbewahren wollten. Und mir weitergeben wollten. Jetzt bin ich die Besitzerin dieses Hauses und die Besitzerin dieses Portraits.
Die Unruhe, die ich empfunden habe, hat viel mit meinem eigenen inneren Erleben in meiner eigenen Familie zu tun. Ich bin mit Flüstern aufgewachsen, mit sehr viel Liebe, und sehr viel Unausgesprochenem, nicht klar Ausgesprochenem.
Genau dieses Haus in Bela Rechka aber, und genau die Familie, die da wohnte (mein Großonkel Boris, der Bruder meiner Oma, und seine Frau Maria) hat mir immer unglaublich viel Ruhe gegeben. Ich habe immer Bela Rechka für diese Ruhe, Einfachheit und Gelassenheit geliebt. Ich war da immer willkommen, immer reichlich beschenkt, immer mich wohl gefühlt. Und dann – doch dieses Bild, das genau das umgekehrte zeigt. Und mich mit meiner eigenen Unruhe verbinden möchte.
Ich habe auch weitere Verbindungen zu Mina gefunden.
Mina war die zweite Frau von Ivan.
Es gibt auch die Geschichte, dass mein Großvater Dimcho eine andere Frau in Bela Rechka heiraten wollte, aber im letzten Moment meine Oma Ivana, die Tochter von Mina, geheiratet hat. Sozusagen, war meine Oma auch eine zweite Geliebte, nicht die erste. Nach dem Tod meiner Mutter erzählte uns (mir und meiner Schwester) mein Vater, dass seine große erste Liebe eine andere Frau war, Jahre vor meiner Mutter. Mein Vater war aber arm und wollte zuerst ein Haus bauen, damit die beiden anständig wohnen können. Und die Familie der Frau hat darauf nicht gewartet.
Heute bin ich auch die zweite Frau meines Mannes. Wie Mina. Damit kann ich gut leben.
Früher war ich aber nicht immer in der Lage, Gefühle in meinen Beziehungen zu zeigen, z.B. – Wut und Ärger, wenn ich betrogen wurde, Traurigkeit, wenn ich mich nicht gut fühlte. Was will sie, Mina, nicht sehen, fragte in einer der Geschichten Zwetana, meine Verwandte. Ich kann das jetzt mit mir verbinden – ich wollte meine eigene Traurigkeit nicht wahrnehmen und nicht sehen. Ich kenne diesen Zustand. Diesen verschwommenen Blick. Den Blick von Mina.
Am Abend in Remagen sprach plötzlich Angelika über ihre Wut, die Geschichten zu hören, die immer die Armut und die Abwesenheit betonen. Die Wut von Angelika war so lebendig und schön zu spüren, so authentisch. Das hat mich nochmal mit meiner Unruhe verbunden.
Weil genau das hatte mich immer gestört – die Klarheit des Gesichts des Mannes, dem alles erlaubt war, alle Gefühle. Und Mina, der diese Vielfalt der Gefühle nicht erlaubt war, Gefühle wie Wut und Ärger zu zeigen. Das war das Frauengesetz meiner Familie, mit der ich aufgewachsen bin. Ich habe nie meine Oma oder meine Mutter wütend erlebt. Nie. Ich kann mir es nicht vorstellen, dass sie schreien oder ganz laut werden. Zu mir haben sie auch immer gesagt, sehr liebevoll – das darfst Du nicht, liebes, ist nicht schön, Du bist Frau. Dein Vater darf, aber Du bist eine Frau, bleib einfach ruhig, liebes.
Die verbotene Wut ist kein Thema mehr in meinem Leben. War aber eine lange Zeit.
Und wie Anna in ihrer Geschichte die Frage stellt – wo hast Du Teil Deiner Seele verloren, Oma? , kann ich auch fragen – wie war das für Dich, Oma, so viel Wut nicht auszudrücken? Hast Du dabei, ohne zu wollen, Tel Deiner Seele verloren?
In ihrer Beobachtung stellt Zwetana eine andere ganz spannende Frage – vielleicht haben wir Dich beleidigt? Dieses gemeinsame „Jetzt“ von uns, Betrachtern, und von den Beobachteten auf dem Foto, dieses „Jetzt“, wo alles möglich und weiter verändbar ist, ist für mich eine Besonderheit des gegenwärtigen Moments jeder Erinnerung.
Das sind Überlegungen und Gedanken, die zu mir gekommen sind, nachdem ich das Bild zur öffentlichen Verfügung gestellt habe, zu vielen Freundinnen von mir, zu meinen Verwandten, und auch zu unbekannten Menschen, die sich in der Galerie in Remagen versammelt haben.
Ich wollte das Foto meiner Urgroßeltern in Ruhe lassen. In einem Herz der Künstlerin Margarete Gebauer. Das ist mir auch gelungen. Ich kann jetzt dieses Foto dort tatsächlich ruhen lassen, genauso, wie es ist und ich kann meinen Urgroßeltern sagen: Danke, dass ihr mir die Möglichkeit gibt, weiter auszusprechen, was mir nicht immer möglich war. Danke auch an meinen Großonkel Boris und meiner Großtante Maria, die das Foto in diesem Haus und Rahmen aufbewahrt haben und die mir so viel Ruhe geschenkt haben. Danke an alle, die dieses Haus bis jetzt belebt haben und an meine Schwester, die jetzt ein großes Teil ihrer Zeit dort verbringt.
Danke an allen, die meiner Bitte zum Schreiben gefolgt haben. Es hat mich bewegt, diese unglaubliche Resonanz zu spüren und daduch ganz natürlich mehr von mir ans Licht zu bringen.
Deshalb glaube ich tatsächlich, alles geschieht jetzt. Nichts ist wirklich vergangen.
26.März 2022