Lesestoff –
1984

Veröffentlicht in „1984! Block an block. Subkulturen im Orwell-Jahr“

BG 1984. “Schaue niemals Bilder zur Beruhigung vor dem Tod an“

1984 ist ein seltsames Jahr  für Bulgarien. Das Tragische ist hinter jeder Ecke. Zum ersten Mal besteigt ein Bulgare  den Mount Everest, Hristo Prodanov. Die große Freude bleibt im Gedächtnis aber mit Trauer verbunden – Prodanov stirbt 2 Tage danach beim Abstieg.

So kann man in diesem Jahr alles in Bulgarien betrachten. Es ist ein Jahr tragischer Ereignisse, Gerüchte, Schattengeschichten. Das Land befindet sich in einem konservativen Zustand. Die experimentelle Stimmung, welche die Tochter von Parteichef Zhivkov, Lyudmila Zhivkova, als Kulturministerin gebracht hat, scheint verschwunden. 1981 wird Zhivkova tot im Badezimmer gefunden, ihr Tod bleibt bis heute mysteriös und provoziert viele Gerüchte – Selbstmord oder Mord durch den KGB? Zhivkova sympathisierte mit der indischen Kultur,  Philosophie und mit Yoga und zu ihrer Zeit wurde die erste offizielle Yoga-Abteilung im Sportverband in Sofia eröffnet (bis dahin blieb Yoga als „Fremdes“ der kommnistischen Idee verboten). Zhivkova stirbt genau in dem Jahr, als Bulgarien 1300 Jahre seit der Staatsgründung feiert. Filme, neue grandiose  Denkmale, der Volkspalast der Kultur in Sofia (… der größte im Südosten Europas…), sollen den Stolz der Bulgaren auf ihre Geschichte wecken. Mit  Hilfe Zhivkovas wird im Auswärtigen Amt eine spezielle Abteilung für das kulturhistorische  Erbe gegründet, die für den Export und den Verkauf bulgarischer Kunst in die Welt verantwortlich sein soll. Zhivkovas Tod bringt ein bitteres Ende dieser Experimente. Mehrere Angehörige der Abteilung – alle Mitarbeiter der bulgarischen Stasi(DS) – , werden verhaftet, in nichtöffentlichen Prozessen verurteilt und ins Gefängnis gebracht, wegen Diebstahl und illegalem Handel mit Kulturerbe. Das Volk erfährt davon wenig, nur Gerüchte, Vermutungen und Witze. Den neuen konservativen Wind spürt man überall in die Kultur. Der Roman Gesicht (Лице) von der Schriftstellerin Blaga Dimitrova wird  1981 veöffentlicht und sofort aus den Buchhandlungen genommen. Der Spielfilm Eine Frau, die 33 ist (Една жена на 33) wird verboten. Beide Geschichten stellen existenzielle Fragen über die menschliche Einsamkeit und die Suche nach dem Sinn des Lebens, was gefährlich zu sein scheint.

In dieser Atmosphäre beginnt das Jahr 1984. Die indische Ministerpräsidentin Indira Gandhi wird umgebracht. Der sowjetische kommunistische Parteivorsitzende Yuri Andropov stirbt. Der Konsum von Alkohol in der Sowjetunion wird stark begrenzt, was für Bulgarien große Folgen hat – der Export in die UdSSR sinkt von 300 Millionen Flaschen Wein bis auf 100 Millionen, viele Weinberge werden dadurch vernichtet.

Es gibt aber auch wieder Hoffnung und große Aufregung in dieser Zeit.

Einer der besten Kinderfilme wird produziert, ein Film, der für Generationen von Kindern symbolisch bleibt-  “Oben auf dem Kirschenbaum”(Горе на черешата). Und ein weiterer Film erscheint 1984 – “Gefährlicher Charme” (Опасен чар), eine der beliebtesten bulgarischen Komödien aller Zeiten, mit dem Schauspieler Todor Kolev.

Genau in dieser Zeit sorgt Punk für große Momente. Die Punkmusik breitet sich in viele Teile Bulgariens aus, es wird experimentiert, auf ORWO chrome oder TDK aufgenommen. Neue Punkbands werden eine nach der anderen im ganzen Land  geboren. Von ihnen sind einige zu nennen –  Kontrol, Milena, Review, Chipodil, Cholera, Abort, Kokosha glava, Remont, Ave Maria, Regionalna Psychoza, Bitov Terror, TWU, Wtoroto nazionalno nisto (Das zweite nazionale Nichts), Kale, Experiment… In Varna, am Schwarzen Meer, erscheinen viele Gruppen, inzwischen auch die Gruppe mit dem längsten Namen „Niemals guck Bilder zur Beruhigung vor dem Tod“„Никога преди смъртта не гледай миражи за успокоение”, dessen Lieder „Fleischbällchen mit Sauce“ oder „Kakerlake Goscho“ regionale Hits werden, obwohl diese erst in die 90er Jahre im Studio aufgenommen werden. Von den vielen Gruppen in Varna sind auch „HBO“; „Lambi, Miro, Mimo und Taslaka Band“ und „Narcissus“ zu nennen. Führende Zentren der Punkmusik werden im Süden Bulgariens die Städte Dupnitsa und Blagoevgrad und besoders Kyustendil, der als Geburtsort des Punk BG gefeiert wird. Hier sind  die „Neue Blumen“(Нови цветя) – Ende 1970er gegründet, die erste bulgarische Punkband,  „Pseudochor“ , „T.K.Z.S.“ (dessen  Album „Zarter Exhibitionismus oder Fata Morgana in braun” erst  1995 erscheint). Auch im Nordwesten Bulgariens, in Vratza, erscheint eine neue Band – “Schande”.

Hier ein Text des berühmten Lieds Onkel (Чичо) von Kale, das auch von Milena und Review gesungen wurde.

Beweg dein Gehirn, Onkel,

ärgere dich, das weiß ich, du,

Sag mal meinst du,

wenn ich falle, wird es immer noch weh tun?

Ob die Kappe alles verstopft

Wieso ist der Wein trocken, er fließt doch?

Sag mir, was ist die Avantgarde

und ob man Zensur essen kann?

Ende 1984, genau vor Weihnachten, beginnt im Süden Bulgariens eine große Aktion der kommunistischen Regierung – der gewaltsame Wechsel der türkischen Namen der bulgarisch-türkischen Bevölkerung durch slawische Namen. Bei dem Namenswechsel sind bei den meisten Namensänderungen die Anfangsbuchstaben erhalten geblieben: aus Redzeb ist Rumen geworden, aus Hassan zumeist Assen. Nach dieser Aktion, durch die kaum noch türkische Namen übriggeblieben sind, haben sich die Behörden etwas besonders Makaberes ausgedacht. Sie haben begonnen, in alten Familiendokumenten und Friedhöfen auch noch die Namen der Verstorbenen zu bulgarisieren. Die Aktion, von der kommunistischen Propaganda als eine Erinnerung an die authentischen bulgarischen Wurzeln und die vergessene bulgarische Identität gedacht, endet 1985 mit Blut, Protesten und Toten, die geheim von der bulgarischen Bevölkerung gehalten werden.  Die Eskalation des Konflikts führt zu Auswanderung in die Türkei von mehr als 300 000 Menschen im Sommer 1989.

Dieser Namenwechsel ist in der bulgarischen Geschichte  schon mehrmals passiert, aber nie öffentlich gewesen.  Der bulgarische Staat fordert z.B. Anfang der fünfziger Jahre die Abwanderung von 150 000 Türken, zwischen 1968 und 1978 ermöglicht ein Abkommen mit Ankara die Auswanderung von 80 000 Türken.

Die Angst der Bulgaren vor den im Lande lebenden bulgarischen Türken hat historische Wurzeln. Immerhin hielten die Osmanen Bulgarien  500 Jahre unter ihrer Herrschaft, bis 1878. Es wird bis heute in Filmen, Büchern als die „dunkelste Zeit“ in der Geschichte Bulgariens beschrieben. Die nationalen Feier im Jahr 1981 zu „1300 Jahre Bulgarien“ dienen auch dazu, den Patriotismus zu wecken und zu stärken und den Mythos über den einheitlichen  bulgarischen Staat zu verbreiten. Hinter dem Mythos steht Angst – die Angst, daß die Geburtenrate der bulgarischen Türken fast viermal so hoch ist wie die der ethnischen Bulgaren. Die Angst, daß die bulgarischen Türken hauptsächlich in den Gebirgsgegenden leben, während immer mehr Bulgaren in die Städte streben. So könnte es allmählich dazu kommen, daß immer größere Landstriche ausschließlich von bulgarischen Türken besiedelt würden. So lautet die Sprache der Propaganda und der Angst.

Die grausame Geschichte des Namenwechsels und Vertreibung von 300 000 Menschen, begonnen im Jahr 1984, bleibt bis heute große nationale und politische Wunde, ein kollektives Trauma, das noch nicht verarbeitet und geheilt ist.

1984 erscheint in der Sowjetunion der Film „Reue“ des georgischen Regisseurs Tengiz Abuladze. Der Film bleibt zunächst zwei Jahre verboten, aber mit der Perestrojka und den neuen Prozessen im Land schafft er es 1987  in den Kinos zu erscheinen. Der Film bekommt 1987 den großen Filmpreis in Cannes. In Bulgarien wird der Film im selben Jahr gezeigt und erreicht sofort einen Kultstatus.“Wenn diese Strasse nicht zum Tempel führt, wofür ist sie denn da?“

Der Satz, mit dem „Reue“ endet, wird fast alle bulgarischen Gespräche in die nächsten Jahre begleiten.

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