Unsere Corona-Tage –
Apfelbäume

David Jacobs, Bonn

„Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge,
würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen“
Martin Luther

 

Margit musste husten, als sie sich aufrichtete. Sie stützte sich auf den Spaten und rang nach Atem. Ihr Blick glitt über all die Menschen, die dabei waren den neuen Hain auf dem Hang hinter ihr anzulegen. Jeder arbeitete für sich. Nirgends sah man Grüppchen zusammenstehen.

“Sag mal, wann hat das eigentlich angefangen?”, rief sie hinüber zu Sergio, der sich vier Meter neben ihr mit seiner Schaufel abmühte.
“Ich hab vor sechs Wochen, das erste Mal davon gehört”
“Nein. Überhaupt, mein ich. Haben die Italiener die Idee mit den Apfelhainen gehabt?”
“Ist doch egal.”

“Komm bloß nicht näher!” rief sie zu dem jungen Mann, der eine Kiste mit Setzlingen herübertrug.
“Bist du heute Hainkönig?”
“Yepp. Ich bin der Martin”, erwiderte er.
Jeden Tag machte ein anderer den König. Jeder, der sich mit Bäumen auskannte, konnte sich auf die Liste schreiben lassen.

“Ich stell die Setzlinge hier ab. Nehmt euch, was ihr braucht.”
“Was für ´ne Sorte ist das?” wollte Margit wissen.
“ Topaz, glaub ich.”
“Lecker, mein Lieblingsapfel!”
„In drei Jahren kannst du ernten!“
„Wenn ich so alt werde.“
Ihre Stimme war durch die Atemschutzmaske nur schlecht zu verstehen.
“An apple a day, keeps the doctor away!” krächzte Sergio herüber.
“Willst du als erstes dein Bäumchen holen, Sergio?”, fragte sie.
“Bitte nach dir! Muss erst mal verschnaufen.”
Sergio hielt sich an seiner Schaufel fest. Margit sah, dass seine Hände zitterten.

Sie versuchte lässig zu der Kiste hinüber zu gehen. Aber sie musste zwischendurch stehen bleiben, um den einsetzenden Schwindel abklingen zu lassen. Dann bückte sie sich vorsichtig, um eines der Bäumchen aus der Kiste zu nehmen.
“Wann hat du dir die Seuche eingefangen?”, wollte Sergio wissen.
Sie hatte Mühe, seine Worte zu verstehen.
“Vor vier Wochen”, erwiderte sie.
“Ich hatte erst nur ein bisschen Husten.” Margit strengte sich jetzt an, damit er sie trotz Maske verstand. “Der Doc sagt, ich wäre inzwischen wieder gesund. Aber ich fühl mich immer noch total schlapp. Und bei dir?”
“Vor zwei Wochen wollte Dr. Mey mich in die Klinik bringen lassen. Aber sie hatten keinen Platz.”
“Und dann?”
“Habe sie mich einfach wieder nach Hause geschafft.” Sergio zuckte mit den Achseln. “Dr. Mey war dagegen, dass ich herkomme. Aber ich wollte unbedingt noch meinen Baum pflanzen!”
Er scharrte weiter an seinem Loch. Früher wäre das eine Sache von fünf Minuten gewesen. Höchstens.
Sergio drehte sich abseits, um kurz die Atemmaske zur Seite zu schieben. „Ich hasse diese Dinger“, rief er Margit zu und atmete gierig die kalte, ungefilterte Morgenluft.
“He! Maske aufsetzen!” gellte eine scheppernde Megafonstimme vom Aufsichtsturm herüber. Sergio hob beschwichtigend die Hand.

“Kommt mir vor, als müsste ich einen Tiefbrunnen ausschachten”, sagte er zu Margit.
“Spatentief reicht, hat Martin gesagt”, erwiderte Margit.
Sergio strauchelte, als er versuchte, das bisschen Erde am Grunde seines Pflanzlochs zusammenzuscharren.
„Scheisseschwer dieser Boden!“, keuchte er.
“Alles klar bei dir?”, rief Margit besorgt.
“Geht schon. Es dreht mich manchmal”, antwortete er mit schwacher Stimme und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

“Ich stell euch zwei Gießkannen hin”, rief Martin jetzt herüber. “Gießt das Wasser in das Pflanzloch. Der Wurzelballen muss klatschnass sein, bevor ihr die Erde wieder reinschippt.”
Als Margit ihre Gießkanne holen wollte, sah sie aus dem Augenwinkel wie Sergio zur Seite wegsackte. Seine Schaufel fiel klappernd neben ihm auf den Boden.
„Martin! Sergio ist umgekippt!“
„Bleiben Sie, wo Sie sind!“, rief die Megafonstimme, als Margit zu ihm hinlaufen wollte.
„Bringen Sie sich nicht in Gefahr. Wir holen ihn gleich ab!“

Es dauerte lange, bis zwei in Schutzanzügen vermummte Helfer mit der Tragbahre kamen.
„Ich ruf dich an, Sergio“, rief sie ihm nach, als er davongetragen wurde.
Margit dachte, sie hätte noch gesehen, wie er die Hand hob. Aber sie war sich nicht sicher.

„Kann ich helfen?“, fragte Martin, als er nach einer viertel Stunde noch einmal vorbei kam.
„Ich pflanze seinen Baum, wenn ich mit meinem fertig bin“, sagte sie.
„Aber mach langsam“, rief er ihr zu. „Übernehm´ dich besser nicht.“
„Geht schon. Ich lass mir Zeit“, stieß  sie unter ihrer Atemschutzmaske hervor.

Vier Wochen später wurde Sergio entlassen. Er habe ziemliches Glück gehabt, sagte Dr. Mey als er zum Hausbesuch kam.
„Was ist eigentlich aus dieser Margit geworden?“ Er schaute ihn fragend an. „Sie waren doch gut befreundet, oder?“
„Sie hat es leider nicht geschafft“, antwortete Sergio. 
„oh, das tut mir leid.“
Sie schwiegen und Dr. Mey wusste nicht, wie er das Gespräch beenden könnte.
„Übrigens. Luther hat das nie gesagt, das mit dem Apfelbaum. Ich hab das gestern Abend nachgeschaut“, sagte er schließlich leise.
„Ich glaube, es ist besser, wenn Sie jetzt gehen, Dr. Mey“, sagte Sergio.

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