Unsere Corona-Tage –
Alles nur in meinem Kopf?
Marcus Hartmanns, Berg
Ein bisschen abergläubig war er ja schon immer – zumindest in Bezug auf Jahreszahlen, Manche fühlten sich einfach gut an, andere eher falsch. Meist sind es die ungeraden Jahreszahlen, die sich falsch anfühlen. In den ungeraden Jahren lebte er immer auf das Ende hin, zählte die Monate und Wochen bis Sylvester und freute sich schon auf das nächste, gerade Jahr.
So war es auch diesmal: 2019 – ein Jahr, das man erdulden musste und erduldet hatte. Ein Mord hatte ihn erschreckt: da war in Kassel der Regierungspräsident von einem Rechtsradikalen liquidiert worden, weil er Erbarmen mit Flüchtlingen gezeigt hatte und sich gegen Pegida gewandt hatte. Natürlich in einem ungeraden Jahr! Er war entsetzt und erinnerte sich an die Morde der RAF und die damals geäußerte „klammheimliche Freude“ einiger. Das war in 1977, als er ein Teenager war. Danach rutschte Deutschland in den „deutschen Herbst“ – eine Phase, wo er plötzlich mitten in Deutschland Polizisten mit Maschinenpistolen sah und die verbale Verrohung an den Stammtischen erschreckende Ausmaße annahm. So was hatte er zuvor und nachher nie mehr erleben müssen. Aber 1977 war ja auch ein ungerades Jahr.
Und dann, am 9. Oktober 2019, war Halle passiert! Halle – eine der deutschen Städte, in der es wieder eine kleine jüdische Gemeinde und eine Synagoge gab! Und dann geschah an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag das Unfassbare! Rechter Terror gegen Juden, mitten in Deutschland! Das hat ihn traumatisiert, das konnte er nicht begreifen – und er war so froh, dass Halle irgendwo sehr weit weg von seinem Dorf war und dass er noch nie dort gewesen war, also keinerlei persönlichen Bezug zur Stadt, zur Synagoge, zur christlichen oder gar jüdischen Gemeinde hatte. So ließ sich das Trauma noch irgendwie wegdrücken…
Aber dann begann ja 2020! Voller Hoffnung startete er, mit guten Vorsätzen und der festen Überzeugung, dass er diese in diesem Jahr auch umsetzen werde. Und das alles besser werden würde: dass vielleicht Trump, Erdogan und Orban bei einem gemeinsamen Flug abstürzen würden, dass die AFD sich zerstreiten und am Ende auflösen würde, dass irgendwelche klugen Wissenschaftler etwas finden, was den Klimawandel aufhält oder wenigstens bremst. Er steckte so viel Hoffnung in das neue Jahr 2020.
Aber die verglimmte schnell! Schon im Februar erschießt wieder ein Verrückter in Hanau 9 muslimische junge Deutsche, dann seine Mutter und sich selbst. Und dann beginnt in China eine Epidemie. China gibt es für ihn nur Im TV. Er war noch nie dort, ist noch nie persönlich mit einem Chinesen in Kontakt gekommen. Es berührt ihn nicht wirklich. Er nimmt es zur Kenntnis. Allerdings verstören die Fernsehbilder von Menschen, die mit Drohnen überwacht werden, falls sie sich wagen, ihr Haus zu verlassen und an den Drohnen scheinen Lautsprecher zu sein, mit Hilfe derer die Überwacher die „Übeltäter“ sofort maßregeln können.
Das kommt ihm heute vor, als sei es schon Jahre her! Er fühlt sich ein bisschen aus der Zeit gefallen, seitdem die Routine weggebrochen ist, seitdem aus der chinesischen Virus-Epidemie in Wuhan eine weltweite Pandemie geworden ist. Den verantwortlichen Virus nennen sie Covid 19 oder Corona-Virus.
Und seitdem sitzt er auf seinem Sofa im Wohnzimmer. Denn er darf nicht mehr zur Arbeit in seine Firma gehen und wartet, dass irgendwann das Leben weiter geht. Egal, welchen Sender er einschaltet, dem Corona-Virus kann er nicht entgehen. Jeden Tag neue Zahlen, jeden Tag neue politische Maßnahmen, die die Bevölkerung einschränken. Diese Gleichförmigkeit macht es ihm noch schwerer, zu wissen, welcher Wochentag gerade ist. Er realisiert das neuerdings an der Fernsehzeitschrift.
Und dann die schrecklichen Bilder von überfüllten Krankenhäusern in Italien und Spanien, in denen die Menschen massenweise krepieren. In Spanien und Italien kennt er sich aus; das fühlt sich für ihn näher an als Halle. Manchmal erwischt er sich, dass Tränen über sein Gesicht laufen bei den Bildern. Ausschalten kann er trotzdem nicht! Er versucht es zu erfassen, was hier gerade geschieht – aber es gelingt nicht!
Kontaktsperre ist nun auch in Deutschland verhängt! Alle Läden sind geschlossen, außer Apotheken und Lebensmittelläden. Alle Schulen, Universitäten, alle Theater, Kinos, gar alle Spielplätze sind verrammelt. Und niemand weiß, wann sie wieder geöffnet werden,
Eigentlich fastet er immer die Wochen vor Ostern, verzichtet auf Alkohol oder Schokolade. Aber dieses Mal ist es eine echte Fastenzeit! Und niemand weiß, ob nach der Fastenzeit auch dieses Jahr Ostern folgt, ob auch dieses Jahr wieder die Auf-Erstehung erfolgt, ob das Leben wieder anläuft. Die Chancen stehen nicht wirklich gut… Er wartet nur auf die Meldung: Die Regierung hat sich entschlossen, Ostern auf nächstes Jahr zu verschieben, so wie die Fußball-EM und die Olympischen Spiele, so wie die vielen Veranstaltungen, die jetzt ausfallen müssen und die Urlaubsreisen, die gebucht waren.
Zwischendurch erwischt er sich aber immer wieder bei dem Gedanken, ob diese ganze Epidemie nur in seinem Kopf stattfindet. Denn real ist sie für ihn nicht erlebbar: er kennt niemanden in seinem Dorf, der am Virus erkrankt ist; und anderen Menschen begegnet er kaum noch; auch in seiner Familie melden alle, dass sie gesund sind. Das Wetter ist herrlich draußen, der Frühling drängt mit Macht; die Luft ist frisch und rein und die Vögel zwitschern. Wenn er die Medien ab sofort einfach ignorieren würde – kein TV, keine Zeitung, kein Radio – er würde nichts von einer Epidemie wissen und merken.
Wie real ist etwas, das persönlich (noch?) nicht erlebbar ist?
Etwas so Komplexes wie den Klimawandel kann er wesentlich konkreter erleben als diese Epidemie. Letztens erzählte ihm ein Nachbar, dass ein Milliardär vor Monaten sehr viel Geld auf fallende Kurse gesetzt hätte. Ob der was mit dem Ausbruch der Epidemie zu tun hat?
Sicher eine Verschwörungstheorie! Aber es bleibt die Zerrissenheit zwischen Wissen und Erleben. Es bleibt die aberwitzige Hoffnung, dass alles vielleicht doch nur ein schlechter Traum ist, aus dem er gleich aufwachen wird. Aber dennoch betet er – für die betroffenen Menschen und Familien und dass der Kelch an ihm vorüber geht – und an allen, die er kennt. Schließlich ist es doch ein gerades Jahr!