Corona Schnee – Einöde

von Andreas Wirsz

Was bedeutete Einsamkeit in diesen turbulenten Zeiten? In irgendeiner Art und Weise wurde jeder davon betroffen. Sogar Menschen, die zuvor gerne allein gewesen waren.

Manu gehörte nicht zu diesen Menschen. Er lebte von Gesellschaft, von Freundinnen und Freunden und von Familie. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Nun wurde er wie jeder andere auf eine harte Probe gestellt. Sozial sein, solidarisch sein hieß jetzt auf einmal, Abstand voneinander zu nehmen. Das, was uns Menschen ausmacht, wurde zur Gefahr. Für Manu war es eine Selbstverständlichkeit. Zu Beginn hieß er es willkommen. Als Schriftsteller benötigte er Ruhe und Gelassenheit, um zu arbeiten. Frei von Ablenkungen hatte er keine Ausreden mehr, seine Arbeit vor sich her zu schieben. Er war gerne Autor, was er allerdings am meisten liebte am Schreiben war das Fertigsein. Der Weg dorthin hieß jedoch erst einmal unablässiges Tippen. Das erforderte ein hohes Maß an Konzentration.

Zunächst war es erfrischend, aber nach den ersten Wochen begann die Isolation an ihm zu nagen. Die Lockdown-Maßnahmen wurden nach und nach verschärft. Es gab immer weniger Gründe, das Haus zu verlassen. Die Treffen mit Freunden wurden zunehmend seltener. Seine Wohnung, die ihm bisher geräumig und gemütlich vorgekommen war, wurde zu einem Gefängnis. Seinem Gefängnis. In normalen Zeiten hatte er sich immer gewünscht, mehr Routine in seinen Tag zu bekommen, produktiver zu werden. Jetzt wurde seine Routine zu einer reinen Monotonie. Aufstehen, Kaffee trinken, Zigarette rauchen, schreiben, zwischendurch etwas essen, wieder schreiben, schlafen gehen und am nächsten Tag alles wieder von vorne. Mit dem Buch kam er kaum voran. Stattdessen starrte er die meiste Zeit auf einen leeren weißen Bildschirm. Er hatte das Gefühl, er würde so langsam verrückt werden. Etwas musste sich ändern. Nur was? Es kam ihm vor, als würde die Welt stillstehen. Kulturveranstaltungen, Restaurants, Kneipen, all das, was er sonst so gern getan hatte, durfte er nicht mehr. Diese gottverdammte Einsamkeit.

Seine Gedanken schweiften ab und er erinnerte sich an seinen Großvater. Nachdem seine Großmutter gestorben war, hatte sich sein Großvater eine Hütte im Wald gebaut, mitten im Nichts. Er hatte die Menschen sattgehabt. Außerdem waren seine Kinder mittlerweile erwachsen und er war bereits in seinem wohlverdienten Ruhestand. So hatte er sich entschieden, einfach auszusteigen, aus seinem gewohnten Leben. Bis zu seinem Tode hatte er dort, in der Hütte im Wald, glücklich gelebt. Manu fragte sich, wie er diese Einsamkeit ausgehalten hatte. Doch dies schien der entscheidende Punkt zu sein. Sein Opa war nie einsam gewesen, er hatte einfach beschlossen, allein zu sein. Alleinsein war nicht mit Einsamkeit gleichzusetzen. Mit dieser Erkenntnis im Kopf packte er seine notwendigsten Sachen zusammen. Mit dem Laptop und dem Schlüssel zu eben dieser Hütte, den er kurz zuvor bei seinen Eltern abgeholt hatte, machte er sich auf den Weg.

Die Hütte stand inmitten einer Lichtung im Wald und war nur zu Fuß erreichbar. Manu musste über eine Stunde lang einen Pfad durch den Wald entlanggehen. Inzwischen waren Wölfe in dieser Gegend zu Hause, aber glücklicherweise hat er keinen von ihnen angetroffen. Er stampfte durch den Schnee zum Eingang der Hütte. Neben dem Hauptgebäude befand sich eine kleine Scheune, in der unter anderem Werkzeug und Jagdausrüstung aufbewahrt wurden und eine Speisekammer. Angrenzend dazu stand ein großer Generator, der die Hütte mit Strom versorgte. Ganz ohne jeglichen Komfort und vollkommen der Natur überlassen hatte sein Opa auch nicht leben wollen. Außerdem verbrachten Manus Eltern im Sommer oft mehrere Wochen hier, dadurch war alles in guter Verfassung und voll ausgestattet. Er brachte lediglich ein paar Einkäufe mit, die er im Kühlschrank aufbewahren würde.

Bevor er die Treppe zur Veranda hochging, hielt er einen Moment inne. Er nahm einen tiefen Atemzug und genoss die frische Winterluft. Es war ungewöhnlich und dennoch erfreulich, etwas anderes zu atmen als den stetigen Feinstaub der Großstadt. Er betrat die Hütte.

Das Hüttchen bestand größtenteils aus Holz, lediglich der Kamin war aus Backstein. Es war ein großer Raum mit einer kleinen Küchenzeile in der Ecke. Alles war rustikal eingerichtet. Vor dem Kamin standen ein altes Sofa und ein paar Sessel um einen kleinen Kaffeetisch herum. In der Mitte des Raums lag ein Teppich aus Fell. Manu musste nur an die Wand sehen, um herauszufinden, von welchem Tier er stammte. Dort hing der ausgestopfte Kopf eines Hirsches mit einem großen Geweih. Sein Großvater war leidenschaftlicher Jäger gewesen und hatte auch nur gegessen, was er selbst erlegt hatte. Manu war das zu makaber. Er war zwar kein Vegetarier, aber Köpfe von getöteten Tieren aufzuhängen, ging ihm doch ein bisschen zu weit. Nichtsdestotrotz konnte er nicht leugnen, dass es zum Charme der Hütte beitrug. Auf der rechten Seite war ein Gang, der zum Schlafzimmer führte. Ein Badezimmer gab es nicht, nur ein Plumpsklo hinter der Hütte.

Nach einer ersten Inspektion packte erst seine Sachen aus, stellte die frischen Lebensmittel in den Kühlschrank und richtete sich seinen Arbeitsplatz vor dem Kamin ein. Er heizte den Kamin mit dem Holz ein, das vor der Hütte aufgestapelt war und setzte heißes Wasser auf dem Gasherd in der Küche auf.

Mit dem frisch gekochten Mokka in der Hand trat Manu auf die Veranda heraus. Dort stand noch der alte, wettergegerbte Schaukelstuhl seines Großvaters. Mit einem Seufzen ließ er sich darauf nieder und blickte auf die offene Lichtung. Er trank in langsamen Zügen seinen Mokka und genoss die wohlige Wärme des Getränks. Endlich konnte er es sich gemütlich machen und zur Ruhe kommen.

Das schneebedeckte Feld erstreckte sich mehrere hundert Meter bis zum Waldrand. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so eine Stille erlebt hatte. Der nächste Ort war dutzende Kilometer entfernt. Kein Zeichen von Zivilisation weit und breit. Er empfand ganz neue Sinneseindrücke. Eine leichte Brise wehte über den Schnee, der leicht aufwirbelte und einzelne Flocken in der Luft tanzen ließ. Hier und da hörte er ein entferntes Rascheln im Unterholz. Er nahm an, dass dort ein paar Hasen oder Vögelchen herumhüpften. Die Luft war so rein, sodass er das Gefühl hatte, er könnte jeden Quadratzentimeter dieser Natur riechen, hören und schmecken. Nach und nach begriff er, was seinen Opa zu dieser Art des Lebens bewegt hatte. Lange hatte er sich nicht so frei gefühlt. Die Probleme des Alltags und der Welt schienen ihm unvergleichlich fern von hier.

Manu hörte ein Knirschen. Es waren Schritte, die der Schnee nicht gänzlich dämpfen konnte. Rechts aus dem Wald, ungefähr dreißig Meter entfernt, sah er einen Wolf herauslaufen. Sofort stand Manu auf. In diesem Moment hielt der Wolf inne und blickte zu ihm rüber. Beide waren wie erstarrt. Sie schauten sich direkt in die Augen. Manus Verstand sagte ihm schnell in die Hütte zu gehen, aber merkwürdigerweise schien ihn etwas in seinem Inneren daran zu hindern. Das Raubtier bewegte sich kein Stück, es starrte ihn nur aus unergründlich dunklen Augen an. Der Wolf war ganz ruhig. Manu fühlte sich nicht bedroht, aber ein eigenartiges Gefühl machte sich in ihm breit. Der Wolf zog ihn in seinen Bann. Der Dampf seines warmen Atems stieg aus seinem offenen Maul auf. Die Sekunden vergingen und doch kamen es Manu wie Minuten vor.

Plötzlich drehte der Vierbeiner sich um und verschwand wieder im Wald. Manu atmete kräftig aus. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Er ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen. Für ein paar Minuten saß er nur da und schaute in die Natur. Es war nicht so, als hätte er Angst gehabt. Sein Puls war erstaunlich ruhig. Vielmehr stiegen in ihm bisher unbekannte Emotionen auf. Er war sich nicht sicher, ob es die Abgeschiedenheit war oder ob er sogar halluzinierte. Dafür schien er allerdings zu gesammelt zu sein. Etwas tat sich in ihm auf. Er ging zurück in die wohlige Wärme der Hütte, setzte sich an seinen Computer und schrieb bis zum Morgengrauen.

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