Corona Schnee – Zwei Uhr nachts
von Mats Doufrain
Es ist zwei Uhr nachts. Ein Montag. Alles schläft. Für die meisten mehr ein Dienstag, da es ja schon nach Mitternacht ist, aber ihnen würde es jeden Tag aufs Neue nur das Gefühl geben, ihr Leben nicht so im Griff zu haben, wie der Rest der Welt es vermeintlich zu haben scheint. Sie teilen jede Nacht. Mit zunehmender Uhrzeit, gen Tageswechsel, läuft es immer gleich. Erst wechselt die Gefühlslage hin zu einem mehrwerdenden Freiheitsgefühl je mehr Lichter ausgehen, ehe dieses abflaut und die individuelle Einsamkeit jeden der Beiden mehr und mehr für sich einnimmt.
Sie liegen nackt im Bett. Sie hat die Decke bis unter ihre Achseln gezogen und ist in Gedanken versunken. Die weiße Decke, die sie anstarrt, hat jeden Abend die gleiche Wirkung. Ein Tor in eine Welt, die ihnen beiden besser gefällt, als die ihre. Er liest. Hesses „Bäume“. Sie dreht sich auf die Seite. Mit dem Blick aus dem Fenster und ihm unmittelbar davor, schläft sie jeden Abend ein. Ihr Traum vor dem eigentlichen. Ihre Augen brauchen einen Augenblick, bevor sie aus ihrer vorherigen Trance den Fokus wiederfinden. Irgendetwas scheint anders. Etwas mit ihm scheint nicht zu stimmen. Die Augen finden ihren Fokus wieder. Im Zimmer ist alles normal.
Als sie ihren Blick nach draußen richtet, sieht sie es. Über dem graudunklen Umriss seiner Schulter sieht sie den Schnee herunterfallen. Es ist kein Fallen. Ein Herablassen passt für sie besser als Beschreibung. Ein Herablassen, um eben ihr auch einmal diese Freude zu ermöglichen. Innerhalb eines Augenblicks verlassen beide das Haus. Es hat seit Jahren nicht mehr geschneit.
Es ist totenstill. Kein Auto fährt. Niemand ist draußen. Die Großstadt wirkt menschenleer. Sie sind die ersten, die Spuren in den Schnee ziehen. Sie werden die ersten bleiben, bis die Stadt wiedererwacht. Nur eins wird anders sein. Sie verjagen den Schnee nicht. Die Leere auf den Straßen transformiert die Einsamkeit der Zweisamkeit dieser Zeit wieder hin zu einem Freiheitsgefühl. Normalerweise wäre nun, wie jeden Tag, trotzdem normaler Verkehr auf den Straßen. Die Bars wären noch voll. Busse und Bahnen würden im Minutentakt fahren. Doch nichts. Die Natur schlägt zurück, denken sie. Sie zeigt mal wieder, dass sie nicht und niemals der menschlichen oder technischen Kontrolle unterliegen wird. Ein Zeichen, das den beiden mehr bedeutet, als das Lächeln, welches sie auf den Lippen tragen.
Der Virus war der Auslöser dessen, dies sind sie sich bewusst. Es hat unschuldige Menschenleben gekostet und tut es weiterhin. Dies schmerzt den beiden immens. Niemand sollte durch Krankheiten oder gar Krieg frühzeitig ableben und dies zu verhindern ist eines ihrer höchsten Ziele. Und trotz alledem ist es in der Gesellschaft überhaupt nicht so. Ihre Empfindungen mögen sie getrübt haben, doch wurden durch diesen Virus bestätigt, besonders weiter Kritik zu üben, was die wirklichen Ziele einer Gesellschaft sein müssten. So hat es die Natur auch getan, denken sie sich. Sie fühlen sich bereit es besser zu machen. Besser auch als jene Natur, die sie so bewundern. Wieso muss immer jemand sterben, fragen sie sich. Doch sie sind sich sicher, es war eine erneute Wehr der Natur gegen die rücksichtslose Art der Menschen, mit ihr und anderen Arten umzugehen. Eine Wehr, die die Menschheit bezahlen musste. Eine Wehr, die mehr Probleme der menschlichen Gesellschaft offenlegte, als irgendetwas sonst, was die Nachkriegsgenerationen sich in einer Welt vermeintlich mehr Frieden denn je, hätte ausmalen können.
Sie gucken auf die Uhr. Halb vier. Als sie gerade das Handy einstecken will fällt ihr etwas auf. Es ist der erste Dezember. Heute soll es mal wirklich der Tag sein, der er auch ist, denken sie sich. Die Hoffnung eines Beginns in eine Zeit, in der sich viele Menschen mit ihren jeweils Engsten treffen, auch diesesJahr, und viel nachdenken werden. Es ist anders und wird anders werden. Die beiden gehen nachhause. Eins ist ihnen trotz dieser Demonstration der Natur bewusstgeworden: Der Glaube an ihre Mitmenschen war niemals größer. Es wird anders, aber auch wieder besser!
7.Dezember 2020